Antiheld ohne Eigenschaften

Sich treiben lassen in einer anderen Art der Stille: Die Ausgabe der „Gesammelten Werke“ des großen Tangereinwohners Paul Bowles macht endlich die lange vergriffenen Erzählungen wieder zugänglich

von FLORIAN VETSCH

Lust auf etwas Abgründiges, erotisch Unterminiertes, auf ein Abenteuer aus einer fernen Stadt, das einen ungemeinen Lesesog bis zu seinem schrecklichen Ende entwickelt? Dann liegen Sie mit Paul Bowles’ Tanger-Roman „So mag er fallen“ genau richtig.

Bevor Marokko 1956 die Unabhängigkeit erlangte, hatte Tanger den Status einer Internationalen Zone. Die Stadt war ein El Dorado für Schmuggler, Geldwechsler, Spione, Spekulanten, Rauschgift- und Mädchenhändler, für Lebenskünstler und Extravagante aller Couleurs, aber auch für Künstler und Literaten, die dort billig leben wollten; Paul Bowles (geboren 1910 in Jamaica, Long Island, gestorben 1999 in Tanger) verbrachte über ein halbes Jahrhundert als exilamerikanischer Schriftsteller und Komponist in der Stadt.

Den nach einer mörderischen Zeile aus Shakespeares „Macbeth“ betitelten Roman „Let It Come Down“ (1952, deutscher Titel „So mag er fallen“) begann er im Dezember 1949 auf einem polnischen Frachter, der von Antwerpen nach Ceylon, fuhr; die Idee kam ihm, als er die Straße von Gibraltar passierte und die Lichter der Stadt seiner Sehnsucht vorübertreiben sah. In Indien arbeitete der Autor, der mit seinem Erstlingsroman „The Sheltering Sky“ (1949, deutscher Titel „Himmel über der Wüste“) einen Welterfolg gelandet hatte, weiter am Manuskript, auch unterwegs dann in Marokko, Algerien und Spanien. Fertig wurde der Roman in Xauen, einem malerisch gelegenen Dorf im nordmarokkanischen Rif.

„Hier, in der vollkommenen Stille der Bergnächte, vollendete ich, was ich gehofft hatte, schaffen zu können, als ich den entscheidenden Punkt des Buches erreichte. Ich ließ mich treiben und das Kapitel ,Eine andere Art der Stille‘ sich völlig von selbst entwickeln, ohne es mit dem Bewusstsein irgendwohin lenken zu wollen“, schrieb Bowles im Nachwort.

Vielleicht war es diese Fähigkeit zur Intuition, sein Vertrauen in die unbewussten Kräfte, das Bowles mitunter zu einem literarischen Meister der Grausamkeit werden ließ, wie am Ende dieses Romans, der die Geschichte von Nelson Dyar erzählt, einem Antihelden und Nobody. Bowles hat ihn als Mann ohne Eigenschaften konzipiert, als „Persönlichkeit, die sich nur über die jeweilige Situation, in der sie sich befindet, definiert“.

Dyar verschlägt es nach Tanger, wo er der blutjungen Prostituierten Hadija verfällt, bei einem scheinbaren Reisebüro anheuert und sich in der bizarren Gesellschaft der Expatriierten verliert. Er stiehlt bei einem Wechselgeschäft einen größeren Geldbetrag und setzt sich mit seinem arabischen Begleiter Thami in die spanische Zone Marokkos ab. Von der starken Haschischkonfitüre Majoun völlig depersonalisiert, tötet er den schlafenden Thami, indem er ihm mit einem Hammer einen Nagel ins Ohr schlägt.

„Let It Come Down“ war kein solcher Erfolg beschieden wie dem „Sheltering Sky“. Doch ist es, genau genommen, Bowles’ einziger in Tanger angesiedelter Roman, und in den Fünfzigerjahren war es vor allem dieses Buch, das die Beatgeneration nach Tanger lockte. Schon deshalb muss man begrüßen, dass es wieder auf Deutsch vorliegt, als einzeln erhältlicher Band im Rahmen der bei Goldmann seit dem Herbst 2000 bis zum Frühjahr 2002 erscheinenden „Gesammelten Werke“.

Neben den Romanen macht die Ausgabe auch die seit langem vergriffenen Erzählungen von Paul Bowles wieder in zwei fetten Einzelbänden zugänglich. „Seine Kurzgeschichten gehören zum Besten, was je von einem Amerikaner geschrieben wurde“, stufte Gore Vidal Bowles’ kürzere Prosa ein. Das scheint hoch gegriffen. Doch muss man bedenken, dass Paul Bowles, und nicht nur darin ist er Albert Camus verwandt, Bilder geschaffen hat, die der Geworfenheit und der Vereinzelung des Menschen im 20. Jahrhundert Ausdruck geben, dem Grauen in der Geschichte und der Leere hinter einem phänomenalen, aber erbarmungslosen Himmel.

Von dichter Intensität zeugen auch Bowles’ Erzählungen. Der erste bereits erschienene Band umfasst die 49 Stories von 1939 bis 1976. Dazu gehört auch die Triade von Frieder Schlaichs Bowlesverfilmung „Halbmond“: die Metamorphose „Allal“, die das orientalische Motiv des Zwists zwischen Haschisch und Wein aufgreifende „Geschichte von Lahcen und Idir“ und die glücklose Liebesgeschichte „Zwischenhalt in Corazón“.

Fragte man Bowles, welche seiner Stories er selbst am meisten schätze, so pflegte er stets „The Time of Friendship“ zu antworten. „Die Zeit der Freundschaft“ entstand 1962 in Tanger und spielt in einem kleinen Dorf in der algerischen Sahara zur Zeit des ausbrechenden Unabhängigkeitskrieges. Fräulein Windling, eine schon etwas ältere Schweizer Lehrerin, verbringt ihre Ferien seit vielen Jahren in diesem Dorf und hat dabei eine Beziehung zu dem einheimischen Jungen Slimane aufgebaut. So zart, innig Bowles diese interkulturelle Begegnung schildert, bleibt doch kein Zweifel an ihrer Vergeblichkeit.

Nicht nur die wechselseitig verfehlten Erwartungen der beiden führen zum Zerbrechen ihrer Freundschaft, sondern mehr noch der schließlich triumphierende Krieg, in den der allzu junge Slimane in Colomb-Béchar nach dem Abschied von Fräulein Windling einrückt – trotz ihrer Ermahnungen.

Und diese Verweigerung der Harmonisierung bei gleichzeitiger Intensivierung der Sehnsucht danach könnte als Konstante im Werk von Paul Bowles gelesen werden.

Paul Bowles: „So mag er fallen“. Aus dem Amerikanischen von Maria Wolff / neu durchgesehen von Pociao. 414 Seiten. 24,54 € (48 DM)„Himmel über der Wüste“. Aus dem Amerikanischen von Maria Wolff / neu durchgesehen von Pociao. 372 Seiten. 24,54 € (48 DM)„Gesammelte Erzählungen I“. Aus dem Amerikanischen von Pociao. 670 Seiten. 29,65 € (58)„Gesammelte Erzählungen II“. Aus dem Amerikanischen von Pociao. 26,59 € (52,01).Alle Goldmann Verlag, München