: Wer die Leier hob auch unter Schatten
Morgen wird in London der 17. Turner Preis verliehen. Die Werke der vier nominierten Künstler waren wie immer zuvor in der Tate Gallery zu sehen
von HOLM FRIEBE
Wieder einmal wird die inzwischen wohl bedeutendste Ehrung in Sachen bildender Kunst als spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen inszeniert – „oft kontrovers, manchmal schockierend, niemals weniger als faszinierend“, wie es vollmundig im Begleitheft zur Ausstellung heißt. Wieder überträgt Channel 4 das Ereignis als abendfüllendes Event und lässt diesmal eigens Popstar Madonna einfliegen, den mit 20.000 Pfund dotierten Preis zu übergeben.
Damit soll endgültig auch das ganz junge Publikum für die Kunst begeistert werden. Damit ist aber auch endgültig klar, dass der Turner Preis längst die Sphären des reinen Kunstsachverstandes verlassen hat und in die der Klientelpolitik eingetaucht ist.
Die Vergabe ist, wie schon in den vergangenen Jahren, ein Politikum, das um Repräsentanz von Minderheiten im öffentlichen Raum kreist. Daneben geht es darum, die sich pluralisierenden Strömungen innerhalb der bildenden Kunst abzubilden und in zeitlicher Abfolge gerecht zu bedenken – eine fast unlösbare Aufgabe.
Die klassische Tafelmalerei, wie sie der namensgebende Landschaftsmaler William Turner betrieb, ist dieses Jahr vollends hintenüber gefallen. Statt dessen werden die neueren Traditionslinien gepflegt, die sich bereits in den letzten Jahren als erfolgreich und publikumsträchtig abzeichneten: Für den Bereich Fotografie ist Richard Billingham nominiert, der mit seinen großformatigen Plattenfotografien von unspektakulären Orten in Großbritannien an die derzeit weltweit populären Becher-Schüler erinnert und anderererseits direkt in die Fußstapfen des letztjährigen Preisträgers Wolfgang Tillmans tritt.
Gleichzeitig verfügen Billinghams intime Schnappschüsse seiner subproletarischen Eltern, die auch schon in der genrestiftenden „Sensation“-Ausstellung zu sehen waren, über ein hohes Maß an ins Museum importierter sozialer Relevanz. Es ist jener drastische Sozialrealismus, der nicht erst seit Tracey Emins versifftem Bett aus der vorletzten Turner-Preis-Ausstellung als Merkmal der als unbequem apostrophierten Young British Artists (YBA) gilt. Darüber hinaus zeigt Billingham erstmals Videos, die in dieselbe Kerbe schlagen, wie die Großaufnahme der zuckenden Hände seines speedsüchtigen Bruders beim Playstation-Spielen.
Neben der Fotografie ist die Videokunst die andere vom Auswahlgremium stark gefeaturte neue Strömung. Nach Steve Mc Queen, der den Preis 1999 gewann, gilt der Videokünstler Isaak Julien nun als Favourit, jedenfalls bei den Buchmachern. Seine Videoinstallationen sind – ähnlich wie bei den 1999 ebenfalls nominierten Wilson-Zwillingen – gleichzeitig Rauminstallationen mit gesplitteten Großbildprojektionen: einmal zweigeteilt und achsensymmetrisch wie ein Rorschachtest, einmal dreiteilig wie ein Kirchenaltar.
Der eine Film ist ein skurriles Western-Roadmovie, das in einer homoerotisch aufgeladenen Swimmingpoolszene endet; der andere zeigt eine Fetischparty im pittoresken Ambiente des John-Soan-Museums. Markant sind die aufwendigen Inszenierungen: Es gibt richtige Kinoabspänne, in denen alle Beteiligten bis hin zum Bestboy erwähnt werden.
Anscheinend gemeindet sich die museale Kunst verstärkt das Genre des experimentellen Kurzfilms ein, was nur zu begrüßen ist, da dieses in zeitgenössischen Multiplexen – in Großbritannien zumal – längst nicht mehr vorkommt. Julien ist zweifellos einer der Vorreiter dieser Entwicklung und damit strategisch günstig positioniert.
Die klassische Außenseiterrolle fällt dagegen klar an den clownesken Minimalisten Martin Creed. Seine Installation „#227“ besteht aus nichts als einem großen Raum, in dem das Deckenlicht im Sekundentakt an- und ausgeht. Auf den ersten Blick eine provokante Arbeitsverweigerung. Der Guardian zitiert Creed dementsprechend hämisch mit den Worten: „Immer wenn es angeht, aktiviert es den gesamten Raum, den es beansprucht, ohne dass etwas Physisches hinzugefügt würde, und ich mag das, weil es irgendwie ein großes Werk mit nichts vor Ort ist . . .“
Tatsächlich ist Creeds Ansatz ein philosophisch abgehangenes Gesamtkunstkonzept, das die extreme Skrupulösität zur Maxime erhebt. Schon die minimalste künstlerische Setzung stellt eine widernatürliche Überforderung des Künstlers dar. Mit Wittgenstein ist eine Entscheidung für etwas ja gleichzeitig immer die Entscheidung gegen alles andere, was man im selben Raum in der selben Zeit hätte anstellen können. Warum also dies und nicht das? Creed scheint auf dieser basalen ersten Stufe der Kunstproduktion eingerastet zu sein und schlägt daraus mitunter humoristische Funken. Erklärungsbedürftig, gewiss, und nicht jedermanns Sache.
Der vierte Kandidat ist Mike Nelson, der mit seinen minutiösen architektonischen Nachahmungen von Interieurs das spannende Konzept von Ilja Kabakov oder Gregor Schneider vertritt und fortsetzt. An einer schummerigen Pförtnerloge vorbei gelangt man durch einen labyrinthischen Gang in ein undefinierbares Lager, das Requisitenraum, Asservatenkammer oder Luftschutzbunker sein könnte. Nicht nur das in einer Ecke liegende Boulevardblatt mit der ganzseitigen Headline „WAR!“ löst Beklemmungen beim Betrachter aus und gibt dem Raum etwas von Endzeitstimmung.
Obwohl Nelsons Labyrinth das subtilste und vielleicht eindrücklichste Werk der diesjährigen Auswahl darstellt, taucht er in der öffentlichen Diskussion um den Turner Preis kaum auf, und seine Wahl wäre eine echte Überraschung. Das mag daran liegen, dass selbst der Zugang durch eine unscheinbare Sicherheitstür so authentisch wirkt, dass viele Besucher es schlicht übersehen. Ein weiteres Ausschlusskriterium: Selbst die Pressestelle der Tate Gallery hielt es nicht für nötig, Bildmaterial zu Nelsons Werk mitzuschicken. Schade eigentlich.
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