Stiller Freund der vielen Fernen

Am Bochumer Schauspielhaus hat Wolfgang Welt viele Menschen kommen und gehen sehen. Klar, er ist der Nachtwächter. Früher galt er als der „wichtigste Musikjournalist des Potts“. Gerade ist mal wieder ein Roman von ihm herausgekommen

von FRANK SCHÄFER

Bochum, Hauptbahnhof. Ich habe einen Zug eher genommen, komme also zwanzig Minuten zu früh, aber Wolfgang Welt wartet schon auf mich, als hätte er so etwas geahnt. Nach ein paar Schritten in Richtung Treppe sehe ich ihn, den kleinen, untersetzten, gutmütig lächelnden Mann, wie er da wie ein Schuljunge auf einer von vielen ausgedrückten Zigaretten geschwärzten und unzähligen Hosenböden blank polierten Holzbank lümmelt und mir dann, meinen erkennenden Wink richtig deutend, ein kurzes Stück entgegenkommt. Nach einer freundlichen Begrüßung bringt er mich zum Hotel, und dann sind wir bereits auf dem Weg, eine Station seiner Biografie in Augenschein zu nehmen: das Bochumer Schauspielhaus, genauer: das Foyer, wo er seit vielen Jahren als Nachtwächter Dienst schiebt – für einen Hungerlohn. Aber hier hat er immerhin genügend Zeit zum Lesen. „Zwei Bücher in der Woche schaffe ich gut“, sagt er zufrieden. Und der sich daran anschließende kurze Austausch über unsere letzten Lektüreerfahrungen zeigt mir deutlicher als erwünscht: in der neueren deutschen Literatur kennt er sich sehr viel besser aus als ich. Und wie steht es hier mit dem Schreiben? „Nee, herrscht zuviel Unruhe hier, weil die Kantine ja abends noch offen ist. Da wird viel getrunken.“ Welt grinst.

An seinem gerade erschienenen zweiten Roman „Der Tick“ hat er ausschließlich in den paar Wochen Jahresurlaub gearbeitet, sukzessive, über zehn Jahre lang. Ein normaler Urlaubstag sieht dann so aus: „Ich stehe um 6 auf, ’ne Kanne Kaffee dabei, und dann haue ich das raus . . . bis 9, so 10 Seiten circa. Dann schlafe ich noch ein bisschen, und wenn ich fit bin, nachmittags das gleiche nochmal.“ Ein merkwürdiger Produktionsprozess, der dieser temporeichen, kruden, ohne ästhetisches Kalkül aufs Papier gerotzten Prosa, die offenbar nichts anderes als wahrhaftig sein will, dennoch keineswegs geschadet hat. „Ich habe meine Texte noch nie überarbeitet“, gibt Welt zu – und das sieht man ihnen an. Aber macht er sich vorab wenigstens Gedanken über das Handlungsgerüst? „Ach was, überhaupt nicht. Ich fange an . . . ich weiß wohl, wo ich enden werde, aber der Weg dahin ist ungewiss.“ Manchmal klingt das wie die Transkription eines gesprochenen Textes. Und ein bisschen erinnert seine Diktion denn auch an Jorg Schröders Oralhistory „Siegfried“ bzw. seinem gerade wieder neu gestarteten episodischen Marathonroman „Schröder erzählt“, der ja tatsächlich nichts anderes ist als ein überarbeitetes Tonbandprotokoll.

Wie schon in seinem ersten, ebenfalls „zu 99 Prozent“ autobiografischen Roman „Peggy Sue“, der bereits 1986 im Konkret Literatur Verlag, dann elf Jahre später zusammen mit seinen wichtigsten Erzählungen und Artikeln als so genannte „Bochumer Ausgabe“ in der Edition Xplora erschienen ist und den der Heyne Verlag in dieser erweiterten Fassung vor zwei Jahren noch einmal aufgelegt hat, erzählt Welt auch im „Tick“ von seiner Zeit als „wichtigster Musikjournalist des Potts“, wie er stolz und zu Recht vermerkt. Als rasender Reporter hetzte er damals durch die Szene und schrieb für die maßgeblichen Musikzeitschriften wie Rock Session, Musik Express und Sounds Reportagen und Kritiken, die zum Härtesten gehören, was das Genre in dieser Dekade zu bieten hat. Welt war der archetypische Rock-’n’-Roll- Pechvogel: ein Studienabbrecher, der außer Schreiben nicht viel gelernt und immer einen Blauen zu wenig hat für Bier und Zigaretten, ein temporärer Psychotiker, der keine illegalen Drogen braucht, weil ihm der Arzt Psychopharmaka auf Krankenschein verschreibt, ein kleiner dicker Mann, der bei den Frauen viel zu selten einen Stich kriegt, was ihn nur noch manischer nach dem nächsten Fick fiebern lässt, und schließlich ein Zyniker und harter Hund mit unbestechlichem Blick für hohle Prätention und angemaßte Grandiosität, der in seinen Verdikten kein Erbarmen kennt, nicht gegen sich selbst und schon gar nicht gegen andere. So beginnt er ein Interview mit Helen Schneider, indem er ihr an den Kopf wirft, sie habe gerade eben auf der Bühne fünf seiner Lieblingssongs gekillt. Ihr Manager und Lover schwört daraufhin, Welt als Journalisten fertig zu machen. Er hat das so wenig geschafft wie Kunze. Den hatte er in seinem mittlerweile legendären Fundamentalverriss „Heinz Rudolf Kunze – Deutsche Lieder“ als germanophilen Studienrat und „singenden Erhard Eppler“ entlarvt und auf adäquate Weise abgekanzelt. Danach fiel es plötzlich auch anderen auf.

„Das war ’ne schöne Zeit, jeden Tag unterwegs, Geschichten schreiben.“ Man merkt ihm an, dass er den Achtzigern ein wenig nachtrauert, obwohl er auch zugibt, dass er dieses Leben gesundheitlich wohl kaum länger ausgehalten hätte. Höhepunkt des Exzesses: eine ruinöse Woche mit Motörhead on tour. Aber damals war wenigstens was los. „Ich krieg ja jetzt nicht mehr so viel mit von der Welt.“ Oder doch nur mittelbar, denn die fünf Tageszeitungen, die das Schauspielhaus abonniert hat, liest er kursorisch, und auch noch ein paar Magazine. Aber es ist eben nicht mehr das pralle Menschenleben, das seine Stories auszeichnet. Deshalb hat er auch das Theaterstück über seine Nachtwächterexistenz, das man ihm aufgetragen hatte, schließlich doch abgebrochen. „Ich sollte mal aufschreiben, was die Leute alles so tun und lassen im Foyer, aber die tun und lassen da einfach nicht so viel.“

Und weil er nach eigenem Bekunden nur autobiografisch schreiben und sich nichts ausdenken kann, konzentriert er sich statt dessen lieber auf seine subjektivistische Chronik des Ruhrgebiets. Der nächste Roman ist schon zu einem Drittel fertig, „Der Tunnel am Ende des Lichts“ soll er heißen und da weitermachen, wo „Der Tick“ nach 189 Seiten jählings abbricht. Man kann nur hoffen und sich wünschen, dass Heyne diesem Schreibprojekt auch weiterhin eine verlegerische Heimstatt bietet, denn es steht doch ziemlich einzigartig da in der deutschen Literaturlandschaft. Gut, es gibt Frank Goosen, aber dessen vermeintliche Ruhrpott-Erzählungen spielen topografisch eigentlich eher im Ungefähren, während sich Welt in allen seinen Texten ganz genau lokalisieren lässt. Aber er hat nichts gegen den Kollegen, gönnt ihm seinen Erfolg, nur einen kleinen Einwand bringt er doch noch vor: „Der ist mir zu süffig, wenn de verstehst, was ich meine.“ Diesen Vorwurf kann man ihm jedenfalls nicht machen. Apropos, wie reagieren eigentlich die bei ihm vorkommenden realen und nur teilweise pseudonymen Figuren auf die Bücher? „Die meisten finden das zu säuisch.“

Immer wieder stockt unser Gespräch, weil er den Hausmeister begrüßen muss, einen Schauspieler anfrozzelt oder seiner Stellvertreterin hinter der Scheibe, hinter der er die Nacht über sitzt, einen schönen Dienst wünscht. Nach einer Bratwurst im Stehen bei Dönninghaus, der besten Braterei am Platze, am „Bermuda Dreieck“, der Bochumer „Suffmeile“, die wir am späteren Abend noch in Angriff nehmen werden, fahren wir raus nach Bochum-Langendreer, zur Wilhelmshöhe. Dort wohnt Welt mit seiner Mutter schon seit über vier Jahren, in einer alten Zechensiedlung. Sein Vater, der ein paar hundert Meter die Straße runter als Lohnbuchhalter gearbeitet hat, ist vor vielen Jahren schon gestorben. Herzinfarkt. Die ältere Frau, die sich lächelnd als „seine Sekretärin“ ausgibt, weil sie tagsüber die Telefonate für ihren Sohn annimmt, als Nachtschichtler schläft Welt oft bis 7 Uhr abends, spricht nach einer kurzen Aufwärmphase ganz unbefangen von ihrer überwundenen Krebskrankheit. Zwei Liter Wasser müsse sie jetzt jeden Tag trinken, und man kann ihrem Gesicht ansehen, dessen Ähnlichkeit zu dem ihres Sohnes schon verblüffend ist, dass sie keinen Spaß daran hat. Wir sitzen zusammen in der Küche, Gelsenkirchener Barock, trinken Kaffee bei laufendem Radio. WDR 4 spult sein Schlagerprogramm ab, unterbrochen von aktuellen Milzbrand-Nachrichten. „Neulich war in der Stadt die Post abgeriegelt“, erzählt Welt, „weil sie ein verdächtiges Päckchen gefunden haben. Da haben sich die Uniformträger natürlich die Hände gerieben, können endlich mal wieder allen zeigen, was sie drauf haben.“

Frau Welt liest die Texte ihres Sohnes nicht, stolz ist sie trotzdem darauf. „Anerkennende Reaktionen“, und damit ich es nicht als Prahlerei missverstehe, hängt er gleich ein „vielleicht“ an, „habe ich hier auf der Wilhelmshöhe gekriegt, von den einfachen Leute, wenn ich das so sagen darf. Die akzeptieren mich – auch als Künstler.“

Schließlich steigen wir noch die zwei Treppen hoch, unters Dach, damit ich mir die aus seinen Büchern wohlbekannte „Mansarde“ ansehen kann, wo er dann doch ein paar Mädchen rumgekriegt hat – und wo die elektrische Schreibmaschine steht. Weil Welt kaum noch Farbbänder dafür bekommt, will er sich jetzt einen Laptop zulegen, um dann in den langen Nächten im Schauspielhaus vielleicht doch mal ein paar Bildschirmseiten vollzuschreiben, damit es nicht wieder zehn Jahre dauert, bis der dritte Band erscheint.

In der Zwischenzeit allerdings gilt es noch einen weiteren Schatz zu heben, die vielen, in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien verstreut publizierten Erzählungen, Kritiken, Polemiken und was sonst noch alles. Diese Texte mal zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzutragen, das wäre die Mühe wert und würde die Wartezeit bis zum neuen Opus auf kurzweilige Weise überbrücken. Wer macht es?

Wolfgang Welt: „Der Tick“. Heyne Verlag, München 2001, 190 Seiten, 7,95 € (15,55 DM)