: Gendarmen brechen ein Tabu
Angespornt durch die Protesterfolge der Polizisten machen jetzt auch die französischen Gendarme ihrem Unmut Luft. Kollektiv krankgeschrieben, gehen sie auf die Straße. Sie verlangen mehr Lohn und bessere Bedingungen zum Leben und Arbeiten
aus PARIS DOROTHEA HAHN
Militärischer Ungehorsam treibt einen großen Teil der 100.500 französischen Gendarmen seit vier Tagen auf die Straße. Sie protestieren, petitionieren und demonstrieren. Sie tun es in Dienstwagen, in Uniformen und vor laufenden Fernsehkameras. Und sie verlangen – genau wie vor ihnen die PolizistInnen des Landes – mehr Personal, mehr Lohn, besseres Arbeitsmaterial und mehr Respekt für ihre immer häufiger tödlich verlaufende Arbeit. Allein gestern veranstalteten sie landesweit ein Dutzend Demonstrationen.
Gendarmen – zu deutsch: Leute in Waffen – dürfen weder demonstrieren noch streiken. Sie unterstehen dem Verteidigungsministerium, sie sind Militärs, sie leben in Kasernen und sie unterstehen einer „militärischen Reserve“. Der Korps der Gendarmerie nationale, der 1791 in der französischen Revolution gegründet wurde, hielt sich bislang immer an dieses Verbot. Der Tabubruch ist historische Premiere. Als Ansporn dienen die Protesterfolge der Polizei und die Vorwahlstimmung im Land. Denn die rot-rosa-grüne Regierung, allen voran Premier Lionel Jospin, der diese Woche seine „wahrscheinliche Kandidatur“ für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Mai angekündigt hat, ist derzeit sehr spendabel.
Im Inneren der Gendarmerie brodelt es seit Jahren. Doch angesichts der „militärischen Reserve“ drangen Informationen über den Missmut nur tröpfchenweise an die Öffentlichkeit. Eine besonders hohe Selbstmordrate im Korps, familiäre Probleme in den Kasernen, wöchentliche Arbeitszeiten angeblich bis zu 70 Stunden und Solde, die bei lächerlichen 1200 Euro (7.900 Francs) anfangen und nur selten am Karriereende über 2300 Euro hinausgehen, sind die Gründe.
Als erstes wagten sich die Ehefrauen von Gendarmen an die Öffentlichkeit. In Interviews klagten sie über die baufälligen Unterkünfte in den Kasernen. In den vergangenen Wochen schlossen sich mehrfach Gruppen von Gendarmen-Ehefrauen den Polizeidemonstrationen an. Auf ihren Transparenten stand, daß sie keine jungen Witwen werden wollen.
Seit Anfang dieser Woche wagen sich die Gendarmen – unter denen seit einigen Jahren auch Frauen sind – selbst auf die Straße. Auch hohe Dienstgrade sind dabei. Ihr Trick: sie melden sich kollektiv krank. Das ist in keinem Gesetz verboten. In der südfranzösischen Stadt Montpellier gingen mehrere Hundert von ihnen gemeinsam zum Arzt, um sich krankschreiben zu lassen.
Gestern waren es 400 Gendarmen, die sich mit demselben Ziel bis nach Paris vorwagten. Sie fuhren in Dienstwagen mit Blaulicht und Sirene in einer kilometerlangen Kolonne vor und marschierten geschlossen über die Champs Elysées. Ihre dunkelblauen Uniformen mit dem horizontalen weißen Querstrich über der Brust gab dem Defilée den militärischen Anstrich. „Wir gehen zum Arzt“, erklärten sie, „weil wir uns unwohl fühlen.
Besonders provozierend traten die Gendarmen am Donnerstag in Cintegabelle in der Haute-Garonne auf. Dort hatten sich 2.000 versammelt, um bei einer Messe ihrer im Dienst „gefallenen“ Kameraden zu gedenken. Einzelne Gendarmen riefen an die Adresse des Präsidenten, der auch ein mutmaßlicher Kandidat für seine Nachfolge ist: „Chirac hilf uns.“ In Cintegabelle hat der sozialistische Premier Jospin seinen Wahlkreis.
Für heute hat Verteidigungsminister Alain Richard die Sprecher der Gendarmerie zu Verhandlungen geladen. Wie alle Mitglieder der Regierung hat er „Verständnis“ für die Forderungen des Korps signalisiert. Ihren Ungehorsam hat er verurteilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen