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Autistische Sudeleien als Katharsis

■ Quasi-schamanischer Heilungsversuch aus Protest gegen die Oberflächenreize des Turbo-Kapitalismus: Vollständige Paul McCarthy -Videowerkschau im Kunstverein

Der Boxer schlägt sich selbst bis zur Erschöpfung, und der Schlachter zerschneidet im Hinterzimmer Staubsaugerschläuche zu Würsten und reibt seinen Sessel mit Ketchup ein. Diese und andere merkwürdig maskierte Gestalten beginnen irgendwann auch damit, sich autis-tisch für ihre Genitalien zu interessieren. So ist dies die erste Ausstellung des Kunstvereins, vor der mit einer Jugendschutzklausel gewarnt werden muss. Denn das weltweit erstmalig in dieser Vollständigkeit gezeigte Videowerk des in Kalifornien lebenden Paul McCarthy strotzt nur so vor Sauereien, die jede Erziehung zu verbieten trachtet.

Das klingt nach Bloßlegung individueller Wurzeln gesellschaftlicher Repression und sehr nach 70er Jahren. Tatsächlich sind die frühes-ten Videos des 1945 geborenen Performancekünstlers 1971 entstanden, in politisch bewegten Zeiten und zeitgleich mit der Markteinführung der ersten tragbaren Videokameras.

Jetzt, kurz vor dem technischen Zerfall der Bänder, auf DVD überspielt, werden sie im Kunstverein in drei Filmboxen als über 20 Stunden langer Durchlauf präsentiert und sind auch in einer Videobibliothek einzeln abrufbar. Zusätzlich gibt es 22 Setfotos und ganz kiezmäßig eine Einzelbox, in der der Pinocchio-Film nur in entsprechender Verkleidung genossen werden kann.

Anhand des exzessiven Videowerkes von Paul McCarty können alle Kämpfe um das Expressive, „Wahnsinnige“ und Ekelerregende nochmals genüsslich durchgespielt werden. Und wie ein Blick ins mit überaus wütenden Anmerkungen gespickte Besucherbuch lehrt, wirkt die Provokation im Kunstraum immer noch, selbst wenn doch jede Nacht im privaten Fernsehen pausenlos für alle möglichen Abarten von Sex geworben wird. Aber richtig ist auch, dass es die Öffentlichkeit nicht unbedingt interessieren muss, wenn einer seinen Schwanz in einen Eimer Farbe steckt, selbst wenn dies ein Kommentar zum Höchstpreise erzielenden Action-Painting ist.

Das Klischee zeichnet den Künstler oft als von Genien und Furien getriebenen, ganz außerordentlichen Menschen, doch über seinen Körpereinsatz wird meist vornehm geschwiegen.

Genau den aber macht Paul McCarthy zum Thema, zeigt ihn der Kamera und zeitversetzt der Öffentlichkeit. Aus Salt Lake City im konservativen Amerika stammend, lebt er in Kalifornien die verdrängte Nachtseite einer Kultur aus, die selbst aus den dafür einst geschaffenen Märchen einen hypersauberen Kunststoffpark gemacht hat. Ähnlich dem bluttriefenden Wiener Aktionismus, aber weit weniger rituell, sondern amerikanisch direkt und individualistisch vereinzelt, zeigt er, worüber allein zu sprechen in „Gods Own Country“ verboten ist.

Was bisweilen wie eine private Hobbykellerschweinerei aussieht, ist dabei ein fast schamanischer Heilungsversuch an den neurotisch verborgenen Wurzeln eines nur Oberflächenreize abgreifenden Turbokapitalismus, in dem noch die letzten Residuen kindlich wilder Träume zu Markenartikeln werden. Dabei kannibalisiert Hollywood die gesamte europäische Mythen- und Märchenwelt von der Antike zu Dornröschen, von Heidi zu Pinocchio und aktuell dient gerade Harry Potter als Fraß. Aber der ist im Ketchup-Keller des Paul McCarthy noch nicht angekommen.

Hajo Schiff

Paul McCarthy Videos und Fotografien, Kunstverein in Hamburg; bis 27. Januar.

Begleitprogramm: in aktion.performance heute: 18.-20. Dezember: Patrick Rieve, Malte Urbschat, Mark Wehrmann.– 17.Januar 2002: John Bock. – 24. Januar 2002: Francis Alys

Vorträge: 13. Dezember (Hou Hanru) und 24. Januar (Carlos Basualdo).

Katalog 18, 80 Euro (erscheint erst Januar 2002)

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