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Die naive Freude am Chemiebausatz

In Deutschland wird den Naturwissenschaften kein hoher Stellenwert zugesprochen, daran hat auch 1968 wenig geändert. Doch wer über solche Ausbildung nicht reden will, sollte von Bildung besser schweigen. Über die Lehren aus der Pisa-Studie

von BRIGITTE WERNEBURG

Deutschlands Schüler sind nur als Schlusslicht Spitze. So weiß es nun die ganze Welt, nachdem die internationale Vergleichsstudie Pisa (Programme for International Student Assessment) der OECD veröffentlicht wurde. Es hapert hier nicht nur am Wunsch zu lesen, sondern gleich an der Kompetenz. Ganze 23 Prozent der hiesigen 15-Jährigen verfügen demnach nur über elementare Lesekenntnisse: ein Ergebnis weit über dem OECD-Durchschnitt. Weit unter dem OECD-Durchschnitt liegt wiederum die Fähigkeit deutscher Schüler, naturwissenschaftliche Phänomene zu erkennen und naturwissenschaftliche Arbeitsweisen und Methoden zu verstehen. Sie hat sich gegenüber der ersten Schock-Studie Timss (Third International Mathematics and Science Study) von 1998 sogar noch verschlechtert.

Gerade deshalb mutet die Debatte um einen Bildungskanon, die vor etwa zwei, drei Jahren begann, nur noch merkwürdiger an. Dutzendfach warfen die Verlage Bücher auf den Markt, deren ganzer Inhalt es war, zu sagen, was ein einigermaßen halbgebildeter Mensch gelesen haben muss, um als solcher gelten zu dürfen, und Bestsellerprofessor Dietrich Schwanitz, wer sonst, fasste das auf 540 Seiten „Bildung. Alles, was man wissen muss“ griffig zusammen. Nach der Pisa-Studie wirkt das allerdings, als würde hier das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Denn erst sollte man seinen Schülern eine solide Ausbildung angedeihen lassen; und dann kann man, wenn man will, auch über Bildung sprechen.

Doch so ist die Sache hier wohl nie gesehen worden. Bildung, Geschichte, Literatur und alte Sprachen, das war am humanistischen Gymnasium nach dem Krieg tatsächlich alles, was man wissen musste. Leute, die das naturwissenschaftliche (Real!-) Gymnasium besuchten, können ein Lied davon singen, welches Renommee diese Anstalt eben nicht hatte. Denn sie vermittelte das, was man nicht wissen musste: „So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht“, so Dietrich Schwanitz in seinem schlauen und reaktionären Buch.

Denn das will eine Antwort darauf sein, dass 1968 mit dem von ihm wieder entdeckten, elitären Bildungsgedanken Schluss gemacht hatte. 1968 war notwendig, doch es war offensichtlich nicht genug. Denn genau die Generation, die den alten Bildungskanon, den Schwanitz noch einmal hervorkramt, zu Recht kritisierte und verwarf, stellt nun die Lehrergeneration, die die Pisa-Ergebnisse mitzuverantworten hat. Aber Ausbildung war auch nicht das, was die 68er bewegte. Auch ihr Programm war elitär. Es ging um gesellschaftskritisches Hinterfragen, um Ideologieverdacht, der sowohl hinter Goethe wie hinter der biologischen Forschung stets den Nazivater am Werk sah, der mit Heidegger gegen die Technik argumentierte, um gleichzeitig den technisch-industriellen Massenmord zu betreiben. Angewandte Wissenschaft war die dunkle Seite der Aufklärung, eben instrumentelle Vernunft.

Merkwürdigerweise sahen das die Naziväter kaum anders. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stießen Albert Einsteins Vorlesungen an der heutigen Humboldt-Universität beim Berliner Bildungsbürgertum auf einen so regen Zuspruch, dass eine Zugangsregelung eingeführt werden musste. Die erste Viertelstunde war öffentlich, danach hatte das interessierte Publikum zu gehen, damit die studentischen Hörer zum Zuge kamen. Davon berichtete noch letzte Woche der Präsident der Humboldt-Uni in seiner Einführungsrede zur Vorlesungsreihe der Fritz-Thyssen-Stiftung, die mit Okwui Enwezor, dem Künstlerischen Leiter der Dokumenta 11, vor einem restlos gefüllten Audimax begann. Doch dann traten die Nazis auf, und die moderne Physik, die moderne Mathematik, die moderne Biologie, die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die moderne Logik waren plötzlich als rassenfremdes, jüdisches Denken diskreditiert. Mit der Klage über instrumentelle Vernunft war Entnazifizierung hier auch nicht so recht zu leisten.

Die Soziologisierung der Welt jedenfalls, die ständige Frage nach den dahinter liegenden Interessen, die schließlich zum trivialen Generalverdacht gegen Industrie- und Kapitalinteressen gerann, vermittelt eben kein Motiv des Wissenserwerbs; nur das Motiv für eine allgemeine Einstellung, der das Interesse an Technik und Wissenschaft eher verdächtig als fördernswert erscheint. Doch nach Pisa braucht der schulische Erfolg ein gesellschaftliches Klima, das von einem positiven Interesse an den Naturwissenschaften geprägt ist. Und wenn dieses Interesse auch kein unkritisches sein soll, dann darf die Freude an naturwissenschaftlichen Entdeckungen doch nicht von vornherein als naiv entwertet werden.

Aber auch das spielt durchaus eine Rolle. Studiert man den Zeitschriftenmarkt der Weimarer Republik, dann ist schon damals zu beobachten: Das Interesse an Wissenschaft und Technik ist fester Bestandteil der Populärkultur, die hierzulande freilich verdächtig war. Genau an diesem Punkt aber hätte man, wenn jetzt der bildungspolitische Diskurs neu eröffnet wird, mit einem anspruchsvollen „Public Understanding of Science“ anzuknüpfen. Wobei auffällt: Warum eigentlich war in kaum einem der vielen Artikel, die zuletzt in den überregionalen Tageszeitungen über die Pisa-Studie zu lesen waren, ihre Internetadresse angegeben? Darum, im Sinne der deutschen Ergebnisse: Hier werden Sie geholfen! Es ist ganz einfach – www.pisa.oecd.org.

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