: Die unerträgliche Traurigkeit des Seins
Das Ende vom Leid: Amália Rodrigues machte den portugiesischen Fado einst weltbekannt und begründete dessen Image als trauriger Klagegesang. Eine neue Generation hat das Traditionsgenre generalüberholt. Nach dem Erfolg von Mísia tritt nun Cristina Branco für einen Fado ohne Fatalismus ein
von DANIEL BAX
Am Tag, als Amália Rodrigues starb, ordnete Portugals Premierminister Antonio Guterres eine dreitägige Staatstrauer an. Mit der 79-jährigen Sängerin war am 6. Oktober 1999 die Galionsfigur des Fado, des streng stilisierten Sehnsuchtsgesangs vom Rande Europas verstorben, und Radio und Fernsehen des kleinen Landes überboten sich gegenseitig mit Sondersendungen zu ihrem Tode. Eine Ära, die glorreiche Ära des Fados, schien damit ihr Ende gefunden zu haben.
„Als ich die Nachricht hörte, dachte ich: Sie ist gestorben? Sie kann gar nicht sterben! Und sie ist auch nicht gestorben. Sie ist immer noch da!“, behauptet dagegen Cristina Branco, die sich zu jenem Zeitpunkt im Ausland, in Holland, aufhielt. Die Sängerin wird neuerdings in einem Atemzug mit ihrer bereits bekannteren Kollegin Mísia zu jener neuen Generation portugiesischer Künstler gezählt, die das traditionsreiche Genre in den vergangenen Jahren generalüberholt, und vor der letztgültigen Musealisierung und der Erstarrung in Klischees gerettet haben. Ganz ohne Widerstand von konservativer Seite ging dies natürlich nicht vonstatten, denn für die Bannerträger der Tradition kommt jede noch so vorsichtige Erneuerung des Formenkanons einem Sakrileg gleich. Doch nachdem die Sängerin Mísia mit ihrer theatralischen Interpretation – und existenzialistischen Neuinszenierung des alten Fado-Ideals in aller Welt Erfolge feiern konnte, war es auch für eine sanftere Reformerin wie Cristina Branco leichter, Gehör zu finden. Dass auch sie erst im Ausland Anerkennung finden musste, um zu Hause Aufmerksamkeit zu erregen, ficht sie nicht an: „Auch Amália hat ihre Karriere zunächst in Brasilien und später in Frankreich begonnen, bevor sie in Portugal gefeiert wurde. Als sie im größten Konzertsaal von Lissabon aufgetreten ist, war sie schon 65!“
Cristina Branco selbst hat Amália, wie Fado-Afficionados das Objekt ihrer Anbetung grundsätzlich nur beim Vornamen nennen, nie im Konzert erlebt, denn die Fado-Diva hatte sich im Laufe der 80er-Jahre allmählich ganz aus dem Rampenlicht zurück gezogen. Ihre Konversion zum Fado verdankt die 29-Jährige aber trotzdem dem entrückten Vorbild: Genauer gesagt einer Platte, die ihr der Großvater in weiser Voraussicht zum 18. Geburtstag zusteckte und die Cristina Branco den Zugang zum poetischen Kosmos des Fado eröffnete. Auf dieser Platte sang Amália Rodrigues moderne Kompositionen mit zeitgenössischen Gedichten. „Bis dahin kannte ich Fado nur aus dem Radio, bestehend aus einem festen Repertoire von ungefähr 300 Stücken. Aber ich war die Sonorität des Blues gewohnt, des Jazz und des Bossa nova – Musik, die ebenfalls sehr mit den Worten verbunden ist. Als ich dann diese Aufnahmen von Amália hörte, zerflossen die Wörter vor mir, so dass ich sie regelrecht greifen konnte“, beschreibt sie ihr Initiationserlebnis. Danach gab es kein Halten mehr, und die frisch Bekehrte stürmte in den nächsten Plattenladen, um alles von Amália Rodrigues zu kaufen, was sie von Portugals musikalischer Übermutter in die Hände bekommen konnte.
Zum eigenen Gesang sollte sie erst später kommen. Doch für einen Teenager, der mit Rock und Pop aufgewachsen war, hatte Cristina Branco damit eine etwas ungewöhnliche Passion gefunden, zumal den Fado und seine prominenteste Interpretin zu jener Zeit mehr als nur eine Aura von Antiquiertheit umgab. In den Augen vieler Kritiker hatte sich Amália Rodrigues zudem dadurch kompromittiert, dass sie bis zur Nelkenrevolution von 1974 der rechten Diktatur in ihrem Land als Feigenblatt gedient hatte. „Sie reiste ins Ausland und sang davon, wie schön das Leben in Portugal ist. Das Regime benutzte sie als Aushängeschild. Franco hat das gleiche mit Flamenco gemacht“, merkt auch Cristina Branco kritisch an. „Aber sie war tatsächlich die Stimme ihres Landes, und man muss sie in historischen Kategorien sehen. Sie tauchte in einer bestimmten Zeit auf, und sie hatte alles, um eine nationale Ikone zu werden: Die Stimme, das Aussehen, die Präsenz.“ So war es nicht verwunderlich, dass Amália nach dem 25. April 1974 trotz vieler Anfeindungen recht schnell die öffentliche Rehabilitation ereilte. Ihr Ruhm als Königin der Schmerzen erhob sie über alle Parteien (auch wenn die Diskussionen um ihre politische Rolle nach ihrem Tode kurzzeitig wieder aufflackern sollten) und machte sie zur Integrationsfigur. Mit ihren Legionen von Platten, Konzerten und einem Dutzend Spielfilmen aber zementierte sie auch das Bild des Fado als Klagegesang gepeinigter Seelen, denen der Schicksalsstern ein böses Schnippchen geschlagen hat.
Dieses Image ist in die Gattung eingeschrieben, seit sie in mehr als hundert Jahren der Weg aus der Gosse, aus den Hafenspelunken und Bordellen Lissabons, in den respektableren Rahmen der Theaterbühnen und Konzertsäle fand. Das Wort entstammt dem lateinischen „fatum“ für Schicksal, und die Lieder erzählen von der unerträglichen Traurigkeit des Seins und einem Schmerz, der durch schwere Schicksalsschläge – etwa der Erfahrung des Abschieds der Seefahrer von ihren Familien – bedingt sein mag, aber letztlich in der Vergegenwärtigung eines existenziellen Leidens an sich seinen tieferen Ursprung hat. Heute ist der Fado sowohl urbane Touristenfolklore, die in den Restaurants der Stadt zum Fisch gereicht wird, als auch nationales Kulturerbe, dessen kontinuierliche Pflege argwöhnisch überwacht wird.
Ein Korsett aber auch, das seinen neuesten Interpreten zu eng geworden ist: Vor allem der Sängerin Mísia mit ihrer kubistischen Pagenfrisur ist es gelungen, den Fado durch zeitgemäße Texte vom Rost der Vergangenheit zu reinigen und, mit neuen Arrangements aufpoliert, wieder aufs literarische Podest zu stellen. Sie hat dafür nicht nur namhafte Schriftsteller wie den Nobelpreisträger José Samarago auf ihre Seite gezogen, sondern damit auch ein ganz neues Publikum finden können, in Portugal selbst wie auch im Ausland – gerade in Japan ist man ganz vernarrt in ihre minimalistische Selbstinszenierung als bleicher Klageengel und Botschafter einer so ästhetischen wie raffiniert verfeinerten Leidkultur. Dass sie diese, bei aller künstlerischen Distanz, die in ihrer exaltierten Pose angelegt ist, doch verinnerlicht hat, davon zeugen zwei Suizidversuche, von denen sie in einer Plauderstunde mit dem britischen Künstlepaar Gilbert & George in der Vogue fast beiläufig berichtet, nachdem das Gespräch mit den beiden bereits die Themen Sex, Fotografie und ihr ambivalentes Verhältnis zu Blumen gestreift hatte.
Für einen weniger neurotischen Fado, für einen Fado ganz ohne Fatalismus steht dagegen Cristina Branco. „Natürlich habe ich gelitten, wer tut das nicht“, wehrt Cristina Branco jede Koppelung des Fado an tief empfundene Tristesse ab. „Aber Amália hatte auch ein sehr schweres, seltsames Leben. Ich nicht. Ich hatte ein sehr normales Leben.“ Trotzdem fällt auch ihr nur das Wort „Schicksal“ ein, um zu beschreiben, wie sie in ihre plötzliche Fado-Karriere hineingestolpert ist. Während ihres Studiums machte sie erste Gehversuche als Sängerin auf der Bühne und wurde prompt in ein TV-Programm geladen, das wiederum ein Journalist zu Gesicht bekam, der sie für einen Auftritt zur Feier des portugiesischen Nationalfeiertags in Holland engagierte. Ihr Auftritt wurde aufgezeichnet, und daraus entsprang eher zufällig ihre Debüt-CD, die sich überraschend gut verkaufte. So gut, dass mit „Murmurius“ flugs ein zweites reguläres Album folgte, das in Frankreich sogar mit einem Preis bedacht wurde. „Corpo Iluminado“ ist nun die erste CD der Sängerin, die auch hierzulande erscheint. Als Produzent und Arrangeur zeichnet dabei ihr Mann Custódio Castelo verantwortlich, der sie auch stets bei ihren Konzerten begleitet – auf der portugiesischen Gitarre, dem traditionellen Begleitinstrument des Fado. „Für mich ist Fado wie ein Buch, eine Novelle. Wenn ich singe, erzähle ich eine Geschichte. In den Fado-Häusern von Lissabon hört man an einem Abend meist vier oder fünf Leute, die drei oder vier Lieder vortragen. Das sind keine Geschichten, das sind bestenfalls Anekdoten“, deutet Cristina Branco ihren persönlichen Ansatz. Das Persönliche bleibt dabei allerdings auf die Auswahl und die Art des Vortrags beschränkt, die Texte stammen wie meist aus der Feder anderer Autoren.
Das bindet auch ihren Fado letztlich an einem nationalen Kulturfundus, der für Portugal konstituierend ist. Nur, dass das Schicksal es heute besser mit den Portugiesen meint und sie auch ihren Fado folglich nicht mehr ganz so pessimistisch und verzweifelt brauchen. „Ich bin davon überzeugt, dass wir in diesem Moment Geschichte machen“, sagt Cristina Branco mit Blick auf ihre Kollegin Mísia, aber auch auf eher dem Pop zugewandte Kollegen wie Madredeus und Dulce Pontes, die ihre gleichfalls vom Atem der Melancholie umwehte Musik von Portugal aus in die Welt hinaus tragen. „Nie war man im Ausland so interessiert an dieser Musik wie jetzt“, weiß Cristina Branco. „Ich denke, das ist eine kleine Revolution für Portugal. Uns fällt es nämlich schwer, stolz auf uns selbst zu sein. Erst seit der Expo 1998 hat sich das ein wenig geändert, und wir haben zu etwas mehr Selbstvertrauen gefunden.“ Nun wird auch in Portugal bald der Euro eingeführt und die Schwelle zum übrigen Kontinent niedriger. Im Gegenzug exportiert das Land dafür sein frisch renoviertes Fado-Gefühl.
Mísia: „Ritual“ (Erato/Warn.); Cristina Branco: „Corpo Iluminado“ (Emarcy/Univ.); Mariza: „Fado Em Mim“ (World Connection). Cristina Branco live: 17. 12. Berlin, 18. 12. Hamburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen