ATOMNOVELLE: GRÜNE UND BEWEGUNG SOLLTEN BÜNDNIS SCHLIESSEN: Nach dem Ausstieg ist vor dem Ausstieg
Die Sonnenblumen waren groß und kräftig, die Kerstin Müller gestern Jürgen Trittin überreichte, als seine Atomnovelle verabschiedet war. Weder „vertrocknet“ noch „geknickt“ waren die Wappenblumen, ganz anders also, als die Opposition über die Grünen höhnt. Die Blumen sollten Selbstbewusstsein symbolisieren – und den Anfang vom Ende der Atomkraft.
Beides ist verständlich, trifft aber nicht die Situation. Denn die Grünen wurden tatsächlich arg gerupft: Noch vor zwei Jahren hieß es, „mindestens zwei bis drei Skalps“, sprich AKWs, „müssen bis 2002 am Gürtel hängen“. Nun geht kein einziger Meiler bis zur Wahl vom Netz. Jetzt wollen die Grünen aus der Not eine Tugend machen: „Ihr kriegt den Ausstieg nur, wenn ihr uns wieder wählt“, so etwa soll der Slogan zum Wahlkampf lauten.
Das klingt trotzig, erpresserisch, vielleicht weltfremd – ist es aber nicht. Denn nicht nur die Grünen, auch die Anti-Atom-Bewegung muss dazulernen. Ihre Erwartungen an das politisch Durchsetzbare waren überhöht. Und sie zielt immer noch auf den falschen Gegner – macht mehr Druck gegen Trittin als gegen die eigentlichen Bremser in Industrie, Bundesländern und Kanzleramt.
Man kann den Grünen nicht vorwerfen, dass sie den Ausstieg nicht vorantreiben: Sie stärken die Alternativen zur Atomkraft – auch wenn das Ausgehandelte nicht immer üppig war. Dennoch: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das Gesetz zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung oder die Energiesparverordnung sind Fortschritte. Und auch die anvisierte Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes könnte den Ausstieg stützen.
Doch sollten die Grünen erkennen, dass sie die Bewegung brauchen, um den Ausstieg am Leben zu erhalten. Stattdessen droht eine neue Konfrontation: Falls die Grünen wieder in die Regierung gewählt werden, steht Ende 2002 die Diskussion an, welche Alternativen es zum Endlager in Gorleben gibt. Keine Region wird das Lager gern übernehmen. Höchste Zeit, dass Grüne und Bewegung die gestrige Zäsur nutzen und sich wieder annähern. Sie können einander brauchen. MATTHIAS URBACH
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