: Fortschritt als Selbstmord
Brasiliens „grünes Gewissen“ José Lutzenberger wird heute 75 Jahre alt. Die Kritik des Globalisierungskritikers der ersten Stunde an den Chemiemultis ist aktueller denn je
SÃO PAULO taz ■ Konsequent und kompromisslos – so ist José Lutzenberger bis heute, seinem 75. Geburtstag – geblieben. Wortstark setzt er sich gegen die neoliberale Globalisierung ein. Dreizehn Jahre lang war der deutschstämmige Agrarökonom leitender Angestellter der BASF. Aus dem Gefühl heraus, sich als Propagandist einer hochtechnisierten Landwirtschaft „prostituieren“ zu müssen, kehrte er 1970 dem Chemiemulti den Rücken und in seine südbrasilianische Heimat zurück. Dort stellte er fest, dass sich die Umwelt tiefgreifend verändert hatte: Die Abwässer großer Zellstoff-Fabriken und der Pestizideinsatz auf Reisfeldern hatten den Wasservögeln der ausgedehnten Sumpfgebiete fast den Garaus gemacht. „Schlüsselerlebnis“ nannte er das in einem taz-Interview.
Lutzenberger gründete 1971 Brasiliens erste Umweltorganisation, wenig später eine Firma zur Herstellung von Humus aus organischem Müll, und 1987 die Umweltstiftung Gaia. 1988 wurde ihm der alternative Nobelpreis verliehen. Im Rampenlicht stand der ökologische Vordenker 1990 bis 1992: Vom rechten Präsidenten Fernando Collor zum Umweltminister ernannt, prangerte er ohne diplomatische Rücksichtnahmen Machenschaften von Holzfirmen und Großgrundbesitzern in Amazonien an, setzte sich erfolgreich für die Ausweisung eines Reservats für die Yanomami-Indianer ein. Doch als das Feigenblatt einer korrupten Regierung die Umweltbehörde IBAMA als korrupt bezeichnet und internationale Geldgeber davor gewarnt hatte, Projekte der Regierung zu finanzieren, entließ Collor den Umweltminister Lutzenberger.
Seither widmet sich der eigenwillige Einzelkämpfer wieder voll und ganz seiner Umweltstiftung und seiner publizistischen Tätigkeit. In und um Porto Alegre organisiert er Projekte zum ökologischen Landbau, in der Umwelterziehung und -beratung. Auf dem ersten Weltsozialforum von Porto Alegre im Janaur 2001 attackierte José Lutzenberger erneut jene transnationalen Konzerne, die durch den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft ihre Macht ausweiten wollten. Die einseitige Exportorientierung der Agrarsektoren ist für ihn der Hauptgrund für das Bauernsterben in Nord und Süd. „Was wir Fortschritt nennen, ist der Weg in den Selbstmord“, davon ist Lutzenberger überzeugt.
GERHARD DILGER
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