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Traum und Katastrophe

In der Verfilmung des ersten Bandes von Tolkiens „Der Herr der Ringe“ geht es um die Deutungshoheit über den Widerstreit von Gut und Böse – eine Reise durch Nietzsches Genealogie der Moral und die mittelerdische Welt der Elben und Orks

Gegen den Niedergang der Welt bietet Tolkien eine doppelte Erlösungsfantasie

von ELISABETH BRONFEN

Gut, man könnte das Verhältnis zwischen Tolkiens Buch und der Leinwandversion ausloten, sich über die kongeniale Kitschorgie des Regisseurs Peter Jackson lustig machen oder auch eine Ideologiekritik der mehr oder weniger latenten Rassismen dieses keltisch-germanischen Filmmärchens betreiben. Da dies aber so langweilig wie vorhersehbar ist, begeben wir uns lieber auf einen hermeneutischen Trip durch Nietzsches Genealogie der Moral und die mittelerdische Welt der Elben und Orks bzw. das, was 120 Computertechniker daraus gemacht haben.

Bevor der digitale Overkill einsetzt, mit dem Peter Jackson den Roman auf der Leinwand entstehen lässt, erzählt uns eine Frauenstimme aus dem Off die Vorgeschichte des Herrn der Ringe. Sie berichtet vom Ursprung und Schicksal jenes einzigartigen Ring des Bösen, der alle Bewohner der Welt auf ewig in den Bereich des Dunkeln einfangen will: Wir sehen Bruchstücke aus der Vergangenheit, die wie Bildfetzen aneinander gereiht den Hintergrund jener zum Mythos gewordenen Legende ausmachen, die nun plötzlich wieder historische Brisanz erhält. In der von politischem Streit gezeichneten Gegenwart einer mittelalterlichen Welt scheint wieder die ursprüngliche Kraft des Bösen Sauron auf, um seinen Willen zum Untergang durchzusetzen.

Wir sind in der Zeit danach, in einer Welt der Ruinen, in der der gewaltsame Streit der Vergangenheit die Gegenwart zwar heimsucht, aber in Form von verblassten oder rätselhaften Inschriften. Es entsteht eine Bildsprache der vollkommenen Nachträglichkeit, die immer wieder auf eine Ästhetik des Fragments zurückgreift: Gänge durch längst verlassene Kellergewölbe, in denen neben den Leichen auch Bruchteile von Erbstücken zu finden sind, Bücher, deren Text plötzlich abbricht, weil der Tod den Schreiber eingeholt hat. Kolossalstatuen, die an der Mündung eines Flusses stehen, und an die Glorie einer untergegangenen Welt erinnern, zerstückelte Statuen, die verwahrlost in der Landschaft liegen.

Die versteinerten Bruchstücke haben eine unterhaltsame Ambivalenz. Alle Spieler im Kampf um Gut und Böse sind von der Macht der Vergangenheit betroffen – von einem ursprünglichen Drang nach Zerstörung wie auch einer Sehnsucht nach der untergegangenen Herrlichkeit. Gleichzeitig befinden sie sich an einer historischen Schnittstelle. Die allgegenwärtigen Ruinen machen nämlich nicht nur sichtbar, dass der Mythos die Gegenwart umgibt und definiert – als Landschaft, durch die man wandert. Sie weisen auch darauf hin, wie die Zukunft sein könnte, sollte es den Gefährten gelingen, den Ring des Niedergangs an seinen Ursprung zurückzubringen. Als Gegenzauber zu dem drohenden Gesamtniedergang der Welt bietet Tolkiens Romanvorlage eine doppelte Erlösungsfantasie – das endgültige Tilgen eines ursprünglich Bösen wie auch die Wiederherstellung einer vergangenen Glorie. Das Instrument des Bösen kann, an seinen Ursprungsort zurückgebracht, zerstört und somit der schicksalhafte Kampf zwischen Gut und Böse, im Sinne einer Rückkehr zu einer Welt vor dem Fall, grundsätzlich aufgelöst werden.

Unter dem Eindruck der bombastischen Chöre und wehmütigen Klänge von Howard Shore ist man versucht, eine Entsprechung zu Wagners Götterdämmerung zu suchen. Aber vielleicht macht es mehr Spaß, sich auf die Denkfiguren seines Kontrahenten Friedrich Nietzsche einzulassen. Hatte er doch in seiner Genealogie der Moral Geschichtsschreibung als einen ständigen Kampf um einen Anspruch auf Macht beschrieben, bei dem es darum geht, welche Interpretation vom Kräfteverhältnis zwischen Gut und Böse privilegiert wird. Jeder Ursprungsmoment – so seine provokante These – ist als Augenblick des Entstehens zu denken, in dem eine Deutung gewaltsam die Herrschaft über ein Regelsystem an sich reißt und so den Weg, den die Geschichte einnehmen wird, vorgibt. Für Nietzsche besteht die Rolle der Genealogie darin, Geschichte als Entstehung verschiedener um Vorherrschaft streitender Deutungen der Herkunft des Bösen darzulegen.

In diesem Sinne ist der Ursprung des Mythos um den Ring des Bösen in Jacksons Film eine Szene der Entstehung: Sauron verschenkt sieben Ringe an die mächtigsten Fürsten und zwingt sie damit, Mitspieler in seiner auf ewigen Niedergang ausgerichteten Interpretation vom Schicksal der Welt zu werden. Tolkien/Jackson folgen Nietzsche auch darin, dass das Durchsetzen eines Weltentwurfes immer als gewaltsamer Angriff auf die vorherrschende Interpretation zu verstehen ist. Diese Denkfigur findet sich beispielsweise in einer trashigen Szene im Zauberwald, in der die Elfin Galadriel (Cate Blanchett als New-Age-Pin-Up) den Hobbit Frodo in ihren Zauberspiegel blicken lässt. Dort sieht er – als eine mögliche Darstellung der Zukunft inszeniert – ein Bild der Versklavung aller Bewohner der Erde. Vorahnung und gleichzeitig Erfüllung von Saurons Moralvorstellung, die er in seinen Ring hat einritzen lassen: „Ein Ring, sie zu knechten – sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.“

Wie von Nietzsche höchstselbst inszeniert wirkt auch der Kampf der beiden Zauberer, bei dem sie nicht nur ihre magischen Stäbe gegeneinander richten, sondern sich gleichzeitig davon erzählen, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Wir erkennen – der Auftrag an Frodo, den Ring an seinen Ursprungsort zu bringen, dreht sich darum, wessen Vorstellung von Macht siegen wird: Die vom Geiste Saurons inspirierte Deutung, alles würde im ewigen Dunkel enden, oder die der vom Zauberer Gandalf vertretenen Deutung, eine endgültige Erlösung von der Macht des Bösen sei möglich.

Wer hat das Recht, die Welt zu definieren, sie zu beherrschen und ihre Machtverhältnisse zu steuern? Der Film handelt diese Frage als Szene der Versuchung ab und lässt dabei eine andere Erbschaft erkennen, die visuelle Sogkraft des Bösen nämlich, wie sie unter anderem von Jonathan Demme und David Lynch entworfen wurden, um das zeitgenössische Amerika zur Bühne einer Genealogie der Moral umzugestalten. Der Ring bestrickt jeden neuen Träger, weil er zu seinem ursprünglichen Herrn, dessen Geist seine materielle Zerstörung überlebt hat, zurückwill. Jeder Träger, der den Ring anlegt, ist Komplize der bösen Macht und kann deren Bann nur entrinnen, indem er das gefährliche Schmuckstück wieder abstreift.

Dieser Geist des Bösen, von einem Wind getragen, dem der Träger des Rings sich nicht entziehen kann, zieht uns visuell auf eine pittoreske Wahrnehmungsebene: In eine Landschaft des Chiaroscuro, deren Schattierung von Schwarz und Weiß die bunte Zauberwelt plötzlich ausbleichen, und deren Endpunkt eine schlitzartige, von Feuer umringten Öffnung ist. Wenn die beiden Zauberer um die Deutungshoheit des Widerstreits zwischen Gut und Böse kämpfen, spielen Heerscharen von Computergrafikern dieses Kräfteverhältnis auch als Wettkampf zwischen zwei unterschiedlichen Bildmedien durch.

Einerseits das Erbe der europäischen Malerei: die erhabenen Schlachtbilder der Renaissance, die Fantasiegestalten der britischen Präraphaeliten oder die Vexierbilder, mit denen im Symbolismus und Surrealismus paranoide Fantasien visuell umgesetzt wurden – aus sprudelndem Wasser entstehen stürmische Meeresreiter, eine unterirdische Höhlenlandschaft mutiert plötzlich in ein Heer von angreifenden Tiergestalten, wie auch die schwarzen Reiter, deren Gesichter hinter ihren Kapuzen versteckt bleiben, als unheimliche Vollstrecker des Todes auftreten. Andererseits aber haben wir auch die Sprache des amerikanischen Psychohorrors, die diese liebevoll rekonstruierte Zauberwelt durchbricht, das Anachronistische der Bilder aufrüttelt und eine Art der Verführung durchs Filmbild ins Spiel bringt, die eher die Affekte als die Einbildungskraft anspricht.

Nach dem ersten Teil der dreiteiligen Fantasysoap bleibt nicht nur offen, ob der plattfüßige Hobbit Frodo den Versuchungen des Bösen widerstehen kann. Wir dürfen uns auch fragen, welche Bilder sich durchsetzen werden: Die nostalgische Rekonstruktion einer von der Vergangenheit heimgesuchten magischen Welt, die von der Hoffnung auf eine gerettete Zukunft zehrt, oder die avantgardistische Feier der Zerstörung mimetischer Bilder, die die Sogkraft des Bösen zelebriert. Das könnte auch als Kampf zwischen Traum und Katastrophe gedeutet werden – jenen zwei Aspekten aller utopistischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts.

„Der Herr der Ringe – Die Gefährten“. Regie: Peter Jackson. Mit: Elijah Wood, Viggo Mortensen u. a. USA, 86 Min.

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