: Musikalisches Juwel
■ Enormer Aufwand: Prager Kammerchor, NDR-Sinfoniker und -Chor führen Hector Berlioz' einziges Oratorium auf
Es begann alles aus einer Laune heraus: Eines Abends im Jahre 1850 langweilte sich der Komponist Hector Berlioz. Sein Freund, der Architekt Joseph Louis Duc, registrierte das und brachte den Komponisten auf die Idee, für des Architekten Privatalbum ein Musikstück zu schreiben.
In Ermangelung eines geeigneten Papiers zog Berlioz schnell ein paar Notenlinien und begann mit einem vierstimmigen Andantino für Orgel. Es entstand ein Stück, von dem Berlioz glaubte, in ihm eine gewisse ländlich-naive Mystik zum Ausdruck gebracht zu haben. Sogleich schrieb er einen Text dazu, in dem die Hirten von Bethlehem dem Jesuskind einen Abschiedsgruß singen. Die Keimzelle für sein großes Oratorium L'enf-ance du Christ war geschaffen.
So schildert Berlioz in seinen Schriften den Beginn der Entstehung seines einzigen Oratoriums, das nicht nur ein Juwel im eigenen Schaffen sondern auch in der gesamten Musik des 19. Jahrhunderts darstellt. Seinen Reiz bezieht das Stück unter anderem aus der Spannung zwischen poetischer Schönheit und Schlichtheit und dramatischer Zuspitzung. Der enorme Aufwand mit riesig besetztem Orches-ter, Chor und Gesangsolisten, den es erfordert, verhindert häufigere Aufführungen dieses dreiteiligen Meisterwerkes.
Selten ist es einem Komponisten so stilsicher und in sich schlüssig gelungen, in einem einzigen, letztlich gattungsübergreifenden Werk so vielfältige und teilweise gegensätzliche musikalische Welten zu erschließen. Da gibt es einerseits opernhafte Szenen wie die Wahnsinnsarie des Herodes und zwei imaginäre Ballette. Aber andererseits führt ganz in der Oratorien-Tradition ein Erzähler durch das Werk, in dem so manches Chorstück mit Raumeffekten arbeitet, wie man sie normalerweise nur in Kompositionen findet, die für große Kathedralen konzipiert sind.
Und dann immer wieder die Momente religiöser Verinnerlichung und Extase mit ihren so ungewohnten, berückenden harmonischen Wendungen: Ein Stück, für das man sich die Zeit gönnen sollte. Dirigent Christoph Eschenbach wird sie sich mit seinen NDR-Musikern und dem Prager Kammerchor sowohl in Hamburg als auch tags darauf in Bremen nehmen.
Reinald Hanke
heute, 20 Uhr, Musikhalle
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