: Die Stadt als Buchstabensuppe
„Leistet Widerstand“ verblasst langsam und „Angst“ ist wieder weg: Geht man in Berlin spazieren, ist es manchmal so, als hätten die Zeichen eine Stimme. Und beim Fahrradfahren sind Graffitis wie der Text unter dem Bild, durch das man gerade fährt
von DETLEF KUHLBRODT
Im Winter ist es gut, viel spazieren zu gehen. Radfahren ist zwar auch nicht so schlecht, aber spazieren gehen ist besser. Die Stadt wird zum fragmentarisierten Text, wenn man absichtslos durch die Gegend fährt oder geht und oft stehen bleibt, um zu lesen, was die Leute da geschrieben haben; irgendwann mal in einer Zeit, in der man hier auch schon irgendwo wohnte.
Manchmal ist es so, als hätten die Zeichen eine Stimme. Keine bestimmte Stimme, nur irgendeine Stimme. Manchmal flüstert sie, wenn eine Schrift klein und halb verborgen ist, manchmal versteht man sie nicht, wenn’s auf Arabisch ist, manchmal würde ein Graffiti gern schreien, wie die vielen Variationen von „Warum muss der Sohn betteln“, die im Sommer überall hier, selbst auf dem Geldautomaten, standen.
Beim Fahrradfahren sind Graffitis wie der Text unter dem Bild, durch das man gerade fährt, als kleiner Held seines eigenen Films. Das geht mir immer so, wenn ich an dem großen „ANGST“ auf einem Bauwagen an der Leipziger Straße Richtung Alex vorbeifahre. Nicht weil ich nun selber so furchtbar viel Angst hätte, sondern weil so ein Foto von der Leipziger Straße Richtung Alex mit diesem Bauwagen, wo „Angst“ draufsteht, interessanter aussieht als ein Foto vom Brandenburger Tor mit dem Sat.1-Ballon im Sonnenschein über dem unerwähnten Gestapo-Gelände zum Beispiel. Man würde gerne in einen Film reingehen, der mit so einem tristmelancholisch graunassen Novemberbild der Leipziger Straße wirbt. Zum Glück bin ich nicht Wim Wenders. Gestern war „Angst“ dann wieder weg.
Während man als Radfahrer auf den größeren Straßen ein flüchtiger Held des eigenen Films ist, wird man als winterlicher Tiergarten-Spaziergänger zur festeren Hauptperson, wie Michael Rutschky in seinem Buch „Berlin - die Stadt als Roman“ schreibt: „Das kommt von der Natur.“ Doch auch als Hauptperson ist man im Tiergarten flüchtig: „Denn in den Straßen der Stadt stehen, laufen und fahren immer so viele andere Leute herum, die ebenfalls die Hauptrolle beanspruchen, zu Recht. Der Nachteil hier draußen, im Tiergarten: Es fehlt jedes Publikum, vor allem im Winter. Wie kann man die Hauptrolle spielen, wenn niemand zuschaut, außer du selbst? Du bist gleichzeitig im Zentrum und verschwunden.“
In der Kreuzberger Gegend, in der ich wohne, gibt es viele Schriften an den Wänden aus verschiedenen Zeiten. Es ist schön, dass sie alle noch da sind: die Solidaritätsaufrufe für Astrid Proll am Bergmannstraßenfriedhof, die diversen verblassten „Leistet Widerstand“ oder die Einladung zur Revolution am Ersten Mai an den Wänden der romantisch-tristen Nachkriegsmiethäuser am Marheinekeplatz. Diese Revolution muss etwa 1997 stattgefunden haben, jedenfalls hatte ich die Inschrift, die es in drei Variationen gibt, damals zum ersten Mal gesehen, glaube ich, und der Mai war längst vorbei. Manche Graffitis sind neu. Die hiesige Jugendgang scheint noch an ihrem Logo zu feilen, das man hier und dort auf den Gehwegen sieht.
In der Zossener Straße, zwischen „Kaiser’s“ und der Comicbuchhandlung „Grober Unfug“, hängt ein großes Volvo-Plakat mit viel weißem Platz, der zum Raufschreiben einlädt. Auf diesem Plakat entspann sich eine Art Gespräch: „Heute Afghanistan und morgen wieder Polen? Nie wieder Deutschland!“
Statt des Punktes unter dem Ausrufungszeichen gab’s einen Offensive signalisierenden Stern, ein Äquivalent sozusagen zu den Anarchokreisen, mit der eine Weile jedes A in jeder aufrührerischen Wandbotschaft umkreist wurde, was bei Afghanistan zu Absurditäten führen würde. „Obgleich es auch schon Nazis mit Anarcho-A gab“, wollte ich grad schreiben, aber das stimmt nicht! Aber dass die Anarcho-As nicht mehr so in Mode sind, ist Wahrheit. Die revolutionären Sterne auch nicht.
Neulich hatte ich einen Dokumentarfilm über Ché Guevara gesehen, in dem ein junger Schwede mit einer Ché-Guevara-Schablone vorkam. Er sprühte dies bekannte Ché-Bild allerdings ohne den Stern an der Mütze. Denn der Stern würde zu sehr an den Kommunismus erinnern. Egal: Unter den pazifistisch zu interpretierenden Appell auf dem Volvo-Plakat hatte jedenfalls jemand geschrieben: „Oh ja! Ein so einfaches Weltbild wie du hätte ich auch gerne. Dann bräuchte ich auch nicht mehr so viel über Politik nachzudenken, sondern wüsste immer, ohne nachzudenken, was richtig und was falsch ist.“
Nun schreiben auch schon Lehrer auf Plakate rauf und man denkt, dann denkst du halt mal zwei Jahre nicht über Politik nach, der Welt wird’s auch nicht schaden und du hast ein bisschen mehr Spaß.
Der zweite Wandschreiber war vermutlich ein realopazifistischer Grüner. Die Partei meiner Wahl erzielt in der Gegend Ergebnisse um die 50 Prozent. Deshalb duzt man einander, wenn man einander antwortet auf den Plakaten: „Ich glaube, du kannst sowieso nicht nachdenken. Krieg ist falsch, du Wixer!“ Zwei Mädchen lasen im Regen hinter mir das Geschriebene und fanden es blöd, dass Wichser mit „x“ geschrieben worden war. „Das ist so bescheuert, wie ‚Kackstadt‘ statt Karstadt zu sagen. Auf so einem Niveau bewegt sich das doch.“
Manches ist rührend. In der Riemannstraße zum Beispiel. Zwei Meter hinter „Genua – wer ist der Nächste?“ stand „Genua – wer ist die Nächste?“ Ziemlich groß sowie poetisch ambitioniert klang „Von den Türmen der Patriarchate weht der Krieg der Gier. Zwei Türme sind betroffen. Bewahrt das Leben und die Liebe“; witzig das „Autos muss sterben, damit wir leben können“ in der Methfesselstraße.
Am durchgedrehtesten erschien mir aber das Schaufenster des hippiehöhlenartigen Reisebüros in der Zossener Straße. Dort wurde für eine Spontan-&-Billig-Reise nach Sterzing (Südtirol) geworben. Mit „Ratschings-Jaufen“! WAS IST DAS?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen