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Gut Meinungsprozess will Weile haben

Spricht etwas gegen Kritiken, die erst 10 Wochen nach dem Start eines Films erscheinen? Eine Geschichte aus dem Leben eines großen Filmkritikers

Die wirklich großen Kinokritiker der Menschheitsgeschichte lassen sich an einer Hand abzählen. Ich gehöre zu dieser Hand. Ich lehne mich nicht mal zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, ich sei mindestens der Daumen an dieser Hand, wahrscheinlich sogar der Zeigefinger. Der einzige Haken an der Sache: Mich kennt außer mir niemand. Diese Misslichkeit verdanke ich nicht so sehr dem Umstand, für die falschen Blätter zu schreiben. Ich schreibe für die taz, der weltweit anerkanntesten Filmzeitschrift aus Berlin; allerdings hat die taz noch nie eine gedruckt. Die offizielle Begründung dafür: Ich liefere meine Rezensionen nicht rechtzeitig ab. Gewiss, ich schaue mir die Filme immer erst frühestens zehn Wochen nach ihrem Deutschlandstart an. Immerhin erspare ich mir so überfüllte Kinosäle, lange Schlangen an den Kassen und ausverkaufte Vorstellungen. Manche Filme musste ich mir allerdings auf Video ausleihen, da sie nicht mehr gezeigt wurden.

Aber sprach denn eigentlich etwas gegen Kritiken, die man erst nach dem Film lesen konnte? Objektiv betrachtet: nein! Konzertkritiken las auch niemand vor dem Konzert: „Oh! Das Rolling-Stones-Konzert am kommenden Donnerstag kriegt drei Sterne. Na dann werde ich mal doch hingehen.“ Könnte da nicht für das Kino dasselbe gelten?

Mein Meinungsbildungsprozess musste zwar länger reifen, dafür lieferte ich dann auch hervorragende Arbeit, besonders für diejenigen, die den Film nicht verstanden hatten. Es gab aber auch handfeste Zwänge für die Verzögerung. Ich schaute mir die Filme nämlich immer mit meinem Kumpel Sebastian aus Leipzig an, der nur zweimal pro Jahr nach Berlin kam. Nach den Vorführungen musste er sich mit mir jedesmal noch über die Filme unterhalten. Heimlich nahm ich seine Urteile mit einem Diktiergerät auf und übernahm sie als eigene Meinung in meine Kritiken. Diesen kleinen Freundschaftsdienst war er mir schuldig. Das brauchte er nicht zu wissen.

Sebastian war geradezu prädestiniert für diese Aufgabe. Seine Autorität ließ sich nicht leugnen, denn er studierte Kulturwissenschaften im 21. Semester, Grundstudium. Kritikern seines langen Studiums begegnete er gewandt mit dem Hinweis, es sei besser, sich nicht zu übernehmen: „Ich will nicht so rasen. Studieren heißt doch, auch mal inne zu halten, in sich zu gehen, länger über ein Problem zu reflektieren. Von den bisher besuchten drei Vorlesungen und zwei Seminaren kann ich immerhin behaupten, bestimmt bei 50 % der Sitzungen auch mal vorbeigeschaut zu haben. Sogar gemeldet habe ich mich mal, glaube ich.“

Diese Rechtfertigung genügte mir, um ihn für zitierfähig zu befinden. Von Zeit zu Zeit schmückte ich meine Artikel auch mit seinem Namen. Zu „Der mit dem Wolf tanzt“ schrieb ich zum Beispiel: „Und zu der Schlußszene, als Kevin Costner den Indianerstamm verlässt, hat auch der renommierte Kulturwissenschaftler Sebastian, der schon seit zwanzig Semestern intensiv forscht, eine fundiert-dezidierte Meinung. Nach seinen Worten ist das „Krass, ey!“ Zehn Jahre früher verfasst, hätte ich mit diesem Zitat die Kritik problemlos publiziert bekommen.

Unser letzter gemeinsamer Film war Steven Soderberghs „Traffic“, in dem Michael Douglas den designierten Leiter der US-Drogenbehörde spielt, den Richter Robert Wakefield. Der Kampf, wird ihm schnell klar, ist aussichtslos, weil vom kleinsten Polizisten bis auf die Ebene der höchsten Regierungsebene immer jemand seine Finger im Spiel hat, um an den Drogen mit zu verdienen. Selbst seine Tochter dreht am Drogenkarussell, denn sie kokst und fixt und rutscht bald ganz böse ab. Bei seiner Antrittsrede stammelt Michael Douglas daher nur resignativ: „To fight war against drugs, that means to fight war against our families. But I can’t fight war against my family!“ Seine Antrittsrede erweist sich dann doch nicht als Antrittsrede, weil er nicht antritt, sondern sich lieber um seine Tochter kümmert und sie zur Therapie begleitet.

Sebastians Kommentar: „Michael Douglas ist viel sympathischer als ich dachte. Dass er sich so um seine Tochter sorgt, obwohl die Wirtschaft kriselt. Auf mich wirkte der immer wie ein Karrierist.“

„Und was sagst Du zu dem Kampf gegen Drogen allgemein, Sebastian?“

„Hoffnungslos auf der Makroebene. Die Drogenwirtschaft ist zu mächtig. Das hat Michael schon richtig erkannt. Man kann allenfalls auf der Mikroebene vielleicht noch etwas bewirken, bei der family, der Familie.“

„Du hast recht.“

„Natürlich! Und das trifft auf alle Bereiche zu. Die Makroebene bringt nichts. Nur auf der Mikroebene, der Familie, ist vielleicht noch was zu retten.“

Daran ließ sich wirklich nicht rütteln. Alles war egal, da sich nichts grundlegend änderte. Der Film hatte uns immerhin diese Erkenntnis beschert, obgleich das auch egal war, weil sich deswegen nichts besserte. Da konnte ich mir die Kinokritik auch gleich sparen, denn was machte das für einen Unterschied, ob ich eine Kritik schrieb, die nicht gedruckt wurde oder keine Kritik schrieb, die nicht gedruckt wurde?

Die neu gewonnene Weisheit konnte ich auf unserem Heimweg gleich einem Polizisten weitergeben, der gerade Knöllchen verteilte: „Hallo Polizist! Das bringt nichts mit den Strafzetteln. Du kannst die Welt damit nicht ändern. Tu lieber was in deiner Familie. Sprich mit deiner Tochter, damit sie nicht falschparkt!“

„Ich habe keine Tochter.“

„Na dann mit deinem Sohn!“

„Der ist erst vier.“

„Man kann nicht früh genug anfangen.“

Er sah es ein und versprach uns, meinen Ratschlägen Folge zu leisten. Ich bin dafür gerade noch mal um einen Strafzettel herumgekommen.

STEPHAN ZEISIG

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