Eine Nummer zu groß für Berlin

Der Mythos aus der Leberstraße und Berlin: Eine Geschichte von siebzig Jahren voller Hassliebe zu Marlene Dietrich. Nie war ihr die Stadt gewachsen. An ihrem hundertsten Geburtstag nun wird die „einzige Berliner Kosmopolitin“ endlich gefeiert

von JÖRN KABISCH

Der Schnee hatte sich wie ein Schwanendaunen-Umhang um den grünen Granit gelegt. Es war Heiligabend, der stille Abend. Aber die noch frischen Baccara-Rosen unter der Inschrift „Hier stehe ich an den Marken meiner Tage“ erzählten schon davon, dass es mit der winterlichen Ruhe am Grab von Marlene Dietrich bald vorbei sein würde. Spätestens, wenn sich heute Vormittag auch der Kranz des Bundespräsidenten dem Gedenkflor auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße hinzugesellt hat. Marlene Dietrich wird hundert, und Berlin feiert sie (siehe Kasten). Zum ersten Mal.

Die Dietrich war Berlinerin durch und durch. „Jott sei Dank“, sagte sie selbst jedem, der sie danach fragte. Nur wenige Busstationen vom Friedhof entfernt, in der Schöneberger Leberstraße 65, als Maria Magdalena Dietrich am 27. Dezember 1901 geboren, kultivierte sie in der Kolonnenstraße die Schnodderschnauze und pflegte sie bis an ihr Lebensende – über 60 Jahre, die sie in Hollywood, später Paris verbrachte, jedenfalls nie in Berlin. Obwohl sie hier die Schauspielerei gelernt hatte und der „Liebling der Saison“ war, nicht erst, seit Josef von Sternberg das burschikose Starlett für den „Blauen Engel“ entdeckt hatte.

Doch 1930 war Schluss mit Berlin, die Hitlerei kündigte sich bereits an, und die Dietrich mochte lieber ein Hollywood-Star werden als eine Ufa-Größe in Historienschinken. Berlin und Deutschland haben ihr das lange nicht verziehen.

Einmal nur noch in ihrem Leben kam Marlene nach Berlin zurück – für ein Konzert. Obwohl die Bild titelte „Marlene Dietrich ist wirklich heimgekehrt“, wurde sie 1960 von Plakaten mit „Marlene, go home“-Sprüchen empfangen. Die Berliner Gazetten ließen den Schreibern der Leserbriefspalten sogleich freie Hand, die von Vaterlandsverrat faselten und die „Ami-Hure“ beschimpfen durften. In den Köpfen war sie noch immer eine Marlene in GI-Uniform, die in Alliiertenkasernen „The Boys in the Backyard“ sang – zur Ertüchtigung der Besatzer. Zeitzeugen schildern, dass der Frau über dieses böse Hallo die sonst so gemeißelten Augenbrauen zu zittern begannen. Die Dietrich verabschiedete sich schnell, und viele dachten für immer.

Aber Marlene wollte neben ihrer Mutter beerdigt werden, vielleicht sogar den Berlinern verzeihen. Die Szenen, die sich rund um ihr Begräbnis in Schöneberg im Mai 1992 abspielten, aber glichen dem Jahr 1960. Wieder machte sich Volkszorn breit, Evelyn Künneke durfte in der B.Z. erzählen, sie möge es nicht, wenn jemand sein Vaterland verleumde. Der Senat hielt lieber Bezirkswahlkampf und ließ dafür die Ehrengala im Deutschen Theater platzen. Intendant Thomas Langhoff sagte anschließend: „Marlene ist eine Nummer zu groß für Berlin.“

Wahre Worte, auch in den nächsten Jahren. Eine Tote konnte nicht mehr zur Ehrenbürgerin erklärt und die frisch Verstorbene nach dem Berliner Straßengesetz eigentlich nicht zur Namenspatronin irgendeines Weges werden. Schöneberg wollte dennoch eine Ausnahme machen, und die SPD schlug vor, den Tempelhofer Weg umzubenennen – eine Transitstrecke von der Stadtautobahn nach Schöneberg, die durch ein Gewerbegebiet führt. Marlene war am Schrottplatz gelandet. Das war 1996.

Im Jahr 2001 nun besitzt Berlin ihren Nachlass, über 600 Koffer und Kisten, von der Dietrich seit ihren ersten Jahren als Disseuse penibel angelegt, 1993 vom ehemaligen Kultursenator Ulrich Roloff-Momin für fünf Millionen Dollar eingekauft. Und auch einen Marlene-Dietrich-Platz gibt es nun, die Freifläche vor der Spielbank am Potsdamer Platz, die mehr ein Treffpunkt der Winde ist als der Berliner. Um die Ecke im Filmmuseum ist der Schwanendaunen-Umhang ausgestellt.

Die Boulevardpresse hat ihren Frieden mit der Diva längst geschlossen – der „einzigen Berliner Kosmopolitin“. Sie haben die ehemalige preußische Offizierstochter entdeckt, die mit hoher Selbstdisziplin arbeitete und sich im Alter vor ihren Auftritten eigenhändig mit Stecknadeln geliftet haben soll. Das anarchische, bisexuelle Luder, das Marlene einmal gewesen sein soll, ist in Vergessenheit geraten.

Vom Mythos ist inzwischen viel die Rede. Leider wird er vor allem mit dem Vilsmaierschen Film „Marlene“ gepflegt, einem Charleston-Idyll in einer Laubenpieper-Hauptstadt. Oder seiner jüngsten Fortsetzung, wenn es um die Darstellung der 20er-Jahre in Berlin geht: „Sass“ – der aus dem Brüderpaar am liebsten die Berliner Ausführung von Bonnie und Clyde gemacht hätte.

Marlene, das sind heute vor allem die wilden Zwanziger. Seit Jahren erlebt Berlin den unablässigen Versuch eines Revivals – unter anderem mit der Vilsmaierschen Schauspielerriege, unter denen die Beckers, Noethens und Riemanns nur die penetrantesten Interpreten sind. Doch die Wiederbelebung erstickt – in einer Stadt, in der Spaß zur Lebensästhetik geworden, das Über-die-Stränge-Schlagen aber kein Lebensentwurf mehr ist. Marlene, die immer um ihre Legende bedacht war, wusste vielleicht, dass ihr Mythos in keiner Stadt besser weiterleben kann als in Berlin.