: „Es geht bergauf“
aus Wisła GABRIELE LESSER
In Wisła sind die Menschen Frühaufsteher. Selbst am Sonntag läuten die Glocken bereits kurz nach acht Uhr. Pfarrer Waldemar Szajthauer, der seit fünf Jahren im dem Beskidenort nahe Krakau lebt, findet das sympathisch: „Protestanten denken da ganz pragmatisch: Frühstück, Gottesdienst, Skilaufen, am Nachmittag Małysz-Gucken und mit den Kindern Monopoly spielen. Ich mache das nicht anders.“ Der 40-Jährige grinst und nickt mit dem Kopf auf ein Foto mit Frau und Kind. Der Pfarrer fühlt sich wohl in Wisła, dem Heimatort des Skispringers Adam Małysz. „Überall in Polen wäre ich in der Diaspora. Aber hier sind die Evangelischen in der Mehrheit, dann kommen die Zeugen Jehovas und dann erst die Katholiken.“
Der große Erfolg des jungen Skispringers sei auch auf seinen Glauben zurückzuführen, ist Szajthauer überzeugt. „Vor drei Jahren, nach seinen ersten großen Siegen, ist er doch immer schlechter gesprungen. Fast hätte er den Sport an den Nagel gehängt. Aber dann hat er in die Hände gespuckt und noch mal von vorn angefangen. Das nenne ich protestantische Ethik der Arbeit.“ Szajthauer reibt sich die Hände und sagt dann bündig: „So, und jetzt muss ich gehen.“
Einige Kirchgänger haben die Skier gleich mitgebracht und sie im Vorraum abgestellt. Furcht, dass sie gestohlen werden könnte, hat in Wisła niemand. „Hier kennt doch jeder jeden“, meint der Parkplatzwächter, der immer wieder über seine vor dem Bauch geschnallte große Geldbörse streicht. Zur Arbeit hat er es nicht weit. Gerade mal 200 Meter. „Das Geld kommt den Kleinen zugute“, sagt er und deutet auf die kleine Sprungschanze hinter dem Bahndamm. „Ich mache das hier ehrenamtlich.“ Er blinzelt in die Sonne, sieht wieder rüber zur Kinderschanze: „Adam Małysz hat da angefangen. Jetzt springen sogar Mädchen. Die sind auch ganz schön mutig. Bis zu 40 Meter! Man glaubt es nicht.“
Der 62-Jährige mit dem braungebrannten Gesicht kramt in seiner Bauchtasche und zieht ein paar Postkarten heraus. „Nur 1 Zloty. Mit Autogramm habe ich leider keine mehr.“ Er unterbricht sich und läuft auf einen Mann in knallgelben Anorak zu. „Herr Andrzej, Herr Andrzej! Ich brauche neue Postkarten!“
Der Präsident des Sportclubs „Wisła“, Andrzej Wasowicz, ist auf dem Weg zur Schanze. Wenn die Kinder aus dem 60 Kilometer entfernten Zakopane zurückkommen, soll hier alles wieder tiptop in Ordnung sein. Wasowicz steht dem Sportclub seit zwölf Jahren vor, aber erst die Erfolge von Adam Małysz haben den Club berühmt gemacht, sodass endlich auch ein Sponsor gefunden werden konnte. „Die Ausrüstung für so einen Hüpfer kostet rund 3.000 Mark. Welche Eltern können sich so etwas leisten? Und dann braucht das Kind ja noch Abfahrtsskier.“ Wasowicz atmet tief durch. In der klirrend kalten Luft steigt ein Wölkchen auf. „Für uns haben gute Zeiten begonnen. Wir hoffen jetzt alle, dass Adams Erfolgsserie anhält.“
Seit letztem Jahr melden sich ständig neue künftige Skispringer im Club an. „Zwischendurch hatten wir über hundert Kinder und Jugendliche zu betreuen. Inzwischen sind wir bei 60. Neben Mut müssen die Kinder vor allem Ausdauer und Disziplin mitbringen. Manche stellen nach dem ersten Sturz fest, dass Skispringen doch nicht das richtige für sie ist.“ Wasowicz ist stolz darauf, dass die besten Skispringer Polens heute aus Wisła kommen. Die Suche nach den jungen Talenten und den richtigen Trainern habe am Ende den Erfolg gebracht.
Wisła erstreckt sich zwar über eine Fläche von über 110 Quadratkilometern, doch das Zentrum ist übersichtlich. Es gibt nur eine große Straße, an der zugleich alle wichtigen Läden liegen, die evangelische Kirche, das Beskiden-Museum, das Café mit den Małysz-Törtchen und das Kaufhaus Swierk. Hier arbeitet wochentags die Mutter des Skispringers, Ewa Małysz. Sie leitet die Elektoabteilung. Als im letzten Winter die Erfolgsserie ihres Sohnes begann, hätte man fast das Kaufhaus schließen müssen. Die Touristen wollten alle nur zu „Mutter Małysz“ und ein Autogramm von ihr haben. „Es war schlimm“, sagt sie und zieht die Tischdecke auf dem Wohnzimmertisch glatt. „Ständig haben Busse mit Touristen vor unserem Haus gehalten. Man konnte überhaupt nicht mehr raus gehen.“
Ein paar hundert Meter weiter ist vor dem Häuschen der Potoks, wo heute Adam Małysz mit seiner Frau Iza und der Tochter Karolina wohnt, sogar eine regelrechte Bushaltestelle eingerichtet worden. „Da stehen die Touristen dann und fotografieren. Adam musste sogar einen Zaun um das Haus ziehen lassen, weil sie ständig „Souvenirs“ aus dem Garten mitgehen ließen.“
Aus der in kräftigem azurblau gestrichenen Küche zieht Kaffeeduft ins Wohnzimmer. In wenigen Minuten beginnt die Fernsehübertragung des nächsten Skispringens. Dann setzt sich die ganze Familie zusammen. Vom ersten Stock kommt Adam Małysz Schwester mit ihren beiden Kindern Iza und Tomek herunter. Und auch Helena, die Großmutter Adams, verpasst kein einziges Springen. „Das gehört bei uns zur Familientradition. Wir wohnen schon seit Generationen in Wisła. Hier in den Bergen fahren alle Ski. Mein Mann hat noch vor dem Krieg hier ganz in der Nähe eine Sprungschanze gebaut. Da ist dann auch mein Sohn gesprungen, na und später dann Adam.“ Leicht hatte es die Familie nicht. Der kleine Bauernhof warf kaum etwas ab. Als ihr Mann unerwartet starb, stand sie allein da mit vier Kindern und der Wirtschaft. „Ich bin froh, dass ich das alles noch erleben kann, das Glück der Enkel. Die Urenkel.“
Ewa Małysz lächelt in sich hinein und schweigt. Dann bekennt die 43-Jährige plötzlich: „Vor drei Jahren hatte es so ausgesehen, als sei alles schon vorbei. Adam hatte geheiratet. Die beiden hatten eine Tochter bekommen – und dann begann plötzlich eine Pechsträhne, die nicht mehr aufhören wollte.“
Tatsächlich sprang Małysz nach den ersten großen Erfolgen immer kürzer. Die Presse schrieb, dass er zu jung geheiratet habe und die Familie ihn überfordere. Adam Małysz geriet in eine Krise, trainierte immer verbissener und spürte irgendwann, dass es genau daran lag. Am Training. Der Wille zu siegen und das Bewusstsein, wahrscheinlich wieder nicht unter die ersten zehn zu kommen, führte zu immer schlechteren Ergebnissen.
Am Ende ging er zum Trainer seiner Kinderzeit, dem Onkel Jan Szturc, und sagte zu ihm: „Ich will Skispringen lernen“. Er begann wieder auf der Kinderschanze, machte Trockenübungen, versuchte die Technik umzustellen. „Er hat es geschafft“, sagt Mutter Ewa mit ernstem Gesicht. „Wir haben alle an ihn geglaubt, aber ohne den neuen Trainer Apoloniusz Tajner und den Krakauer Psychologen Jan Blecharz hätte er das Springen tatsächlich aufgeben müssen.“
Bürgermeister Jan Polonek glaubt an den Erfolg von Małysz. Er fährt oft hoch in die Berge an seinen Lieblingsaussichtspunkt und schaut auf Wisła: „Das ist meine Stadt. Die Perle der Beskiden“, deklamiert er pathetisch vor einer in ihrer Schönheit fast kitschig wirkenden Berglandschaft. Doch er fängt sich rasch und setzt fast schon im Geschäftston hinzu: „Adam Małysz hat die denkbar beste Imagekampagne für unser Städtchen gemacht. Es kommen immer mehr Touristen. Es geht bergauf.“
Jakub ist sicher, dass es dazu kommt. Der Achtjährige trainiert in jeder freien Minute. Immer wieder saust er in gebückter Haltung die Hänge hinunter, ohne Stöcke. „Skispringer brauchen gute Beinmuskeln“, gibt er sich überzeugt, „und Gleichgewicht.“ Noch ist Jakub nicht im Verein. „Aber“, ruft er noch vom Skilift, der ihn wieder nach oben zieht, „das wichtigste ist sowieso die Psychologie.“
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