SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON CHRISTIAN BECK

Paul McCartney

„Driving Rain“ (EMI)

Auf das traurige Mehr an Interesse, das seinem neuem Album nach George Harrisons Tod zuteil wurde, hätte Sir Paul McCartney sicherlich verzichten können. Wenn sein neues Album eines vor allem auszeichnet, dann ist es McCartneys Händchen, Gefühle auszudrücken, wie jeder sie kennt: Auf „Driving Rain“ finden sich Erinnerungen an seine verstorbene Frau Linda, Hymnen an seine neue Verlobte Heather und die harmonische Beschwörung von Love, Peace und Happiness in jeder Form. Sogar „Freedom“, Pauls musikalischer Einfälle völlig unverdächtiger Song-Kommentar zum 11. September, haut hin, wenn man sich auf seinen emotionalen Gehalt konzentriert: „This is my right / A right given by God / To live a free life / To live in Freedom“.

Auch der erfolgreichste Popmusiker der Welt hat selbstverständlich das Recht zu tun und zu lassen, was ihm gerade passt, auch wenn manche ihm gerne verbieten würden, Stücke, die niemals an seine größten Würfe heranreichen können, trotzdem zu veröffentlichen. Man konzentriere sich auf die positiven Aspekte: Anklänge an McCartneys große Phasen mit den Beatles oder den Beginn seiner Solokarriere etwa, den angenehm auf natürliche Lebendigkeit heruntergefahrenen Produktionsstandard und die damit spürbar wiedergewonnene Freude an der Art von altmodischer Haudrauf-Gitarrenmusik, mit der er einst gemeinsam mit John Lennon zum erfolgreichsten Songwriter-Duo aller Zeiten aufstieg. Oder ein richtiges Statement zur richtigen Zeit in Sachen Harrison: „Riding into Jaipur“ mit seiner Sitar und all dem anderen indischem Brimborium bestätigt das anrührend liebevolle Wort vom „kleinen Bruder“, das Big Brother Paul dem stillen Beatle hinterherschickte, auf ganz handfeste Weise. Als wäre George Harrison – „Within you, without you“ – nie gegangen.

Yoko Ono

„Blueprint for a Sunrise“

Yoko Ono, die im Zuge der Trauer um den Junior-Beatle gleichfalls wieder ins Blickfeld rückte, führt auf ihrem neuen Album einmal mehr auf frappierende Weise vor, welch großes Talent sie hat, komplexe Vorgänge besonders eingängig auf den Punkt zu bringen. So klar sie für viele einst das Auseinanderbrechen der Beatles als Einheit symbolisierte, so simpel fasst sie nun noch einmal zusammen, was damit an Verletzungen einherging und was ihr sonst noch an außergewöhnlichem Schmerz abverlangt wurde: „I remember everything“ heißt eines der elf Stücke ihres „Blueprint for a Sunrise“. Musikalisch bringt Onos elftes Soloalbum eine Rückkehr zu kompositorisch ambitionslosem Standard-Songwriting, allerdings auf hohem Niveau: eingängig die Melodien, schmeichelhaft die Harmonien, angenehm zurückhaltend die Produktion. Und Themen wie aus dem Musterkatalog des Zeitgeists: Feminismus, Krieg, Kunst als Mittel zum Zwecke der Lebenserhaltung unter erschwerten Umständen. Allesamt Themen, über die Yoko Ono aufgrund ihrer Erfahrungen – von der Landverschickung in Japan während des Zweiten Weltkriegs über ihre Erfahrungen mit dem Sexismus der westlichen Welt und die Angriffe wg. John Lennon bis hin zu dessen frühem Tod – mehr als genug zu sagen weiß. Und weil sie aus Fehlern, eigenen wie denen ihres toten Mannes, zu lernen wusste, ist ihr Verhältnis zum gemeinsamen Sprößling Sean so gut geworden, dass auch er natürlich auch diesmal wieder mit von Mamis Partie ist.

Shelby Lynne

„Love, Shelby“ (Mercury)

Dass Shelby Lynne es mit ihrer Familiengeschichte (Vater tötete erst Mutter, dann sich selbst) besonders schwer hatte, war schon auf „I am Shelby Lynne“ nicht zu überhören, mit dem die Ex-Countrysängerin vor zwei Jahren erfolgreich den Sprung ins Rockballadenlager schaffte. Offensichtlich einer der Fälle, in denen sich emotionale Belastung in künstlerischer Kreativität niederschlägt. So auch nun bei „Love, Shelby“, wenn das Album auch ein bisschen daherkommt wie eine Fotokopie: Man erkennt an allen Ecken und Enden das Original, aber es fehlt doch mitunter an Farbechtigkeit, Konturen und Tiefe. Trotzdem bekommt man auch bei „Love, Shelby“ noch reichhaltig „value for money“, wie der Ami sagt. Und das eine oder andere Juwel, das mit Geld eigentlich gar nicht zu bezahlen ist, dazu: „Wall in your Heart“ etwa, wo Shelby Lynne die Mühsal des Lebens und Liebens in anschauliche Worte kleidet wie „I feel your pain in the rain / I feel the rain / What happened to you / I can’t get to you / ’cause there’s a wall in your Heart / That no one can get through“.

Busters

„360  [o]“ (SPV)

Baden-Württemberg ist die Heimat des sauberen Dutzends von Spaßvögeln, das mit „360 [o]“ nun in Regionen vorgedrungen ist, in welche es außer den Specials und Madness aus dem Kernland des Pop auf dem Gebiet des Ska noch kein menschliches Wesen geschafft hat: Aus Wiesloch in der Nähe von Heidelberg kommen die Busters. Entstanden sind sie, weil ein paar Jungs ihrem Kumpel zum Geburtstag einige seiner Lieblingssongs einstudierten, und seitdem haben sie in der Musik der jamaikanischen Rude Boys der Sechziger und der Londoner Ghetto-Jugendlichen der Siebziger und Achtziger eine Meisterschaft erreicht, die sie selbst schon ins Programm des Jazz-Festivals in Montreux gebracht hat.

Unwiderstehlich supersexy die „Let’s-go-below“-Aufforderung der weiblichen Gaststimme, gaaanz abgehangen die Dub-Melancholie in „Judy“, ebenso aufgeräumt wie eingängig und gefällig die nüchterne Betrachtung der Realitäten in „Opposites attract“. Und regelrecht herzerwärmend der universelle Weltschmerz, mit dem sich die Busters in „Monday“ ihren Otto Normalmusikverbrauchern auf unserer Konsumentenseite der Popveranstaltung unterhaken. Perfekter Hyperpop, was auch noch einmal durch die Tatsache unterstrichen wird, dass es sich Ärzte-Frontmann Farin Urlaub nicht hat nehmen lassen, für zwei der insgesamt achtzehn Stücke seine große Schlagerklappe besonders weit aufzureißen.

Earl Scruggs

„Earl Scruggs and Friends“ (MCA Nashville/Universal)

Was haben Elton John, Steve Martin, Johnny Cash, Melissa Etheridge und viele andere mehr gemeinsam? Neben ihrem Starstatus nun auch noch die Tatsache, dass sie Earl Scruggs, dem Helden der amerikanischen Banjomusik, für sein neues Album zur Seite standen. Erwähnenswert auch, dass es sich bei Steve Martin, der sich auf „Foggy Mountain Breakdown“ mit Banjo-Weltmeister Scruggs die Soli auf der Tamburingitarre teilt, um den Schauspieler handelt. So wie Billy Bob Thornton, der mit „Ring of Fire“ die künstlerisch ambitionierteste, weil am weitesten in die Gegenwart geholte Neueinspielung des Albums vorlegt: Ein Hollywood, in dem selbst garantiert vollbeschäftigte Starschauspieler wie der Blödelkomödiant und der Mann, der nicht da war, noch die Muse finden, ihren Hobbys bis zum internationalen Profiniveau nachzugehen, kann gar nicht so schlecht sein.

So gut zu sein wie Johnny Cash, der auf „Passin’ thru“ selbst deklamierend noch seinen Gesangspartner Glenn Frey in den Schatten spricht, wird dem Großteil der Hollywood-Workforce gleichwohl niemals vergönnt sein. „It’s a mighty world we live in“ fasst der Ex-GI, der sich zu Beginn seiner Karriere in Landsberg am Lech noch auf Deutsch gefragt hatte „Wo ist zuhause, Mama?“, seine Erfahrungen zusammen, kurz bevor er ebendorthin, nach Hause, zurückkehrt: „But the truth is / We’re only passin’ thru“.

Sting

„All this time“ (Universal)

Les Negresses Vertes

„Acoustic Clubbing“ (Virgin)

„Stei, Polizop!“, witzelte Gerhard Seyfried in seinen Kreuzberg-Comics einst: „Äh? Stop, Polizei!“ Das möchte man auch dem ehemaligen Police-Hauptwachtmeister Sting gelegentlich zurufen, wenn er mal wieder allzu gediegen und bräsig daherkommt. Natürlich hat er die Aufnahmen zu „All this Time“, die just am 11. September vor 200 geladenen Gästen auf seinem Landsitz in der Toskana stattfanden, „mit tiefem Respekt all denen gewidmet, die an diesem Tag ihr Leben verloren“. Respekt aber auch an den Schöpfer von „(If you love someone) Set them free“, „Don’t stand so close to me“ oder „Every Breath you take“: Mag das den Klassikern diesmal zuteil gewordene Kunsthandwerkarrangement auch nicht jedermanns Sache sein, so bleiben die Songs selbst doch trotzdem Kleinode von geradezu konfuzianischer Einsicht in den Menschen und seine Welt. Ihre Qualitäten werden denn auch nicht durch die bis kurz vor den Kitsch gefahrenen „Unplugged“-Arrangements oder die aalglatte Virtuosität der Musiker beeinträchtigt.

Wie Sting seine Klassiker in seiner inzwischen rund 25-jährigen Karriere gleich mehreren Umdeutungen unterzog, so auch Les Negresses Vertes: Bereits vor rund zehn Jahren ließen die französischen Musette-Punk-Avantgardisten ihre Werke von angesagten Dance-Produzenten wie William Orbit, Massive Attack oder Norman Cook (Fatboy Slim) remixen. Nun stand, den Zeichen der nicht mehr gar so tanzversessenen Zeit entsprechend, die Zurückholung der Werke in wohnzimmertauglichere Lounge-Formate an. Für „Acoustic Clubbing“ haben die Franzosen – neben drei neuen Titeln – zwei Hände voll eigener Klassiker in abgespeckt transparenten Versionen für den Hausgebrauch neu eingespielt, was diesen ausgezeichnet bekommt: Ebenso locker wie hypnotisch grooven die stark arabisch grundierten Songs, finden eine nahezu unwiderstehliche Balance zwischen anregender Beweglichkeit und beruhigender Attitüde. Les Negresses Vertes haben die Mischung offensichtlich längst so verinnerlicht, dass sie durchaus auch einmal ein paar Jahre entspannen können, ohne etwas zu tun. Und so rund und eingängig wie ihre Songs auch für ungeübte Ohren daherkommen, passen sie auch immer wieder in die Zeit. Vermutlich noch viele, viele Jahre.