: „Belgien ist die Märklin-Eisenbahn der Europäischen Union“
Der flämische Schriftsteller Geert van Istendael über sein vorurteilsgebeuteltes Land als Vorbild Europas – immerhin ist es dort für den Konfliktstoff, den sie haben, recht ruhig
taz: Staunend hören wir Ihren Satz: „Europa muss belgisch werden, oder es wird untergehen.“ Das sind ja Aussichten!
Geert van Istendael: Wieso?
Bei Belgien denkt man zuerst an Dioxinskandal, an Dutroux, Justiz-Tohuwabohu, an die groteske EU-Bürokratie und an ein gespaltenes Land.
Die EU oder Europa allgemein ist auch ein komisches gespaltenes Gebilde. Man sollte lernen, dass Einsprachigkeit eigentlich eine Ausnahme sein soll, dass man mit mehreren Kulturen und Sprachen sehr eng zusammenleben kann und soll. Das ist das Modell Belgien. Und zweitens: Belgien, klar, hat seine eigene spießige Korruption; aber ich kenne kein Land in Europa, das keine Skandale hat. Nur scheinen sie in Belgien deutlicher und bekannter. Öffentlichkeit ist doch eine gute Sache.
Ist der Belgier zu dumm zu vertuschen?
Nein, er weiß, dass man solche Sachen nicht vertuschen soll. Natürlich ist es böse, wenn Leute Sachen vertuschen wollen, das gab es immer und wird es immer geben. Dass man schwerer vertuschen kann, ist für mich das Zeichen einer ziemlich gut funktionierenden Demokratie. Glauben Sie mir, den Dioxinskandal hat man vertuschen wollen. Aber das hat nicht geklappt. Und in der Wahl danach wollte der Belgier was wesentlich anderes, und er hat es bekommen. Das ist doch ein guter Mechanismus. Ich glaube, dass Belgien die riesigen Probleme Europas in einem kleinen Raum zeigt. Deswegen sind wir ein kleines Modell, wie eine Märklin-Eisenbahn.
Fühlen Sie sich als Flame, oder fühlen Sie belgisch?
Ich bin geborener Brüsseler, lebe in Brüssel, arbeite in Brüssel. Brüssel ist eine mehrsprachige Stadt, eine Mischkultur. Vielleicht wird ein Wallone sagen, der Istendael ist doch ein Flame. Viele Flamen aber sagen, ich sei ein schlechter Flame, weil ich zwei Sprachen habe. Sie sagen, ich sei zu schlampig, nicht festgelegt. Aber die vergessen, dass es heute längst sehr viel Schlampigkeit im Verhältnis Wallonen/Flamen gibt. Es gab immer Probleme, aber wir haben in Belgien immer Lösungen gefunden. Es gab nie Bürgerkriege, nie einen Toten. Für den Konfliktstoff, den wir haben, ist es eigentlich sehr ruhig.
Ihre Bücher, etwa „Das belgische Labyrinth“, sind auf Flämisch geschrieben . . .
Ja, und in den Niederlanden erschienen. Holland hat die besten Verleger der Welt.
Warum gibt es van Istendael nicht auf Deutsch?
Es ist möglich, dass der Deutsche sich nicht dafür interessiert. Die Wallonen übrigens auch nicht, es gibt noch keine französische Übersetzung. Wohl aber gibt es eine tschechische und eine ungarische Übersetzung. Das finde ich schön. Das liebe ich sogar.
Wie kam das?
Eine Professorin für Niederländisch in Budapest hat das Buch gelesen und gesagt: Das mach ich. Toll. Es gibt überall intelligente Leute.
Wird Belgien unterschätzt?
Eindeutig ja. Und es gibt diese Vorurteile – genau übrigens wie bei Ihrer Zeitung: Als ich das letzte Mal in Berlin war, habe ich in der U-Bahn die taz gelesen. Da hat jemand gesagt: Was, Sie mit dem schicken Anzug lesen die taz; das passt aber nicht! Und Belgien ist zu wenig bekannt. Das ist wirklich ein Problem: Wir sind sehr schlecht in Werbung. Wir unterschätzen uns selbst. Wir plaudern uns selbst hinunter. Ein Problem, das etwa die Holländer überhaupt nicht haben. Ein kleines tragisches Beispiel ist die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg. In Belgien hat man ungefähr die Hälfte der Juden gerettet. In Holland 21 Prozent. Aber Holland hatte Anne Frank.
Aber es kann doch auch, gerade für uns Deutsche, von Vorteil sein, wenn sich ein Land etwas zurückhält mit der Preisung seiner Stärken, seiner Kultur, seiner Besonderheiten.
Ja, ich habe letztes Jahr irgendwo in Deutschland gelesen: Belgien ist ein Geheimtipp. Sehr gut. Das soll es meinetwegen bleiben. Und wissen Sie: Besonders das Geheime daran liebe ich.
INTERVIEW: BERND MÜLLENDER
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