: Die Plattensammlung meines Vaters
Ein Mädchen, das nur leben kann, wenn es die Lieder der Stars nachsingt: Anna Bolk spielt „Little Voice“ von Jim Cartwright an der Tribüne
Es muss ein Vater mit bemerkenswert erlesenem Musikgeschmack gewesen sein. Eartha Kitt und Sarah Vaughn, Liza Minelli und Judy Garland. All die großen Diven von der Piaf über Shirley Bassey bis Marlene. Seiner Tochter hat der tote Vater nur die Plattensammlung hinterlassen, und so sind diese Stimmen auf Vinyl zu ihrer Stimme geworden.
Das schüchterne, verstockte Mädchen, das den Mund nicht aufkriegt, immer verlegen und verhärmt zu Boden schaut mit verkrampften Händen – es kann sich nur artikulieren, wenn es sich die Lieder und den Klang dieser alten Stars dafür leiht. „Little Voice“, ein Stück des britischen Jungdramatikers Jim Cartwright steht und fällt mit der Besetzung dieser Figur. Einer Schauspielerin, die jenes verschlossene, beinahe autistische Wesen zu verkörpern vermag und die gesangliche Größe hat, die Stars des Showbiz zu imitieren. In der erfolgreichen Kinoverfilmung war dies die grandiose Jane Harrocks.
An der Tribüne versucht sich nun die Musicaldarstellerin Anna Bolk, die vor allem als Piaf an diversen Bühnen überzeugen konnte. Folke Braband hat sie in einen scheußlichen Pullover stecken und ihr auch noch eine hässliche Hornbrille aufsetzen lassen. Little Voice hat es schwer, sich in der heruntergekommenen Bruchbude mit ihrer viel zu lauten, viel zu ordinären, viel zu egozentrischen Mutter zu behaupten. Dagmar Biener spielt diese Furie namens Mary mit Mut zur Hässlichkeit und Selbstentblößung. Den prallen Leib eingequetscht in ein zu enges Mieder, dürftig bekleidet mit einem scheußlichen Morgenmantel, stolpert sie durch ihre versiffte Wohnung und schleudert eine Obszönität nach der anderen raus.
„Little Voice“ steht ganz in der Tradition der britischen Kitchen-Sink-Dramen. Ein hyperrealistischer Blick auf das Milieu der Unterklasse, der kein Mitleid und kaum einen Ausweg kennt. Mit seinen exzentrischen, eigenwilligen und letztlich doch verlorenen Figuren grenzt das Stück an die Groteske.
Folke Braband schafft es, die Charaktere trotz aller boulevardesken Momente nie ganz der Lächerlichkeit preiszugeben. Das ist die Qualität dieser geradlinigen Inszenierung. Mögen manche Nebenfiguren blass sein – der Unterhaltungswert ist gesichert, und es gelingen immer wieder Szenen, die im Zuschauer Mitgefühl wecken.
Der abgehalfterte Impressario Ray Say (Matthias Zahlbaum), der in Little Voice die große Nummer sieht und das große Geld erhofft, oder Mary, die in ihm ihren persönlichen Retter und den Mann für den Rest des Lebens sieht – irgendwann stehen alle vor einem Scherbenhaufen: Weil sich das Glück nicht zwingen und Little Voice sich nicht zum Star vergewaltigen lässt. Wenn Dagmar Biener dann ganz still wird und in ihrem Gesicht sich das Entsetzen der Gedemütigten breit macht, zeigt sich, dass in dieser oft als schlichte Berliner Volksschauspielercharge missverstandenen Darstellerin viel mehr steckt als nur die derbe Boulevard-Röhre.
Ach ja: dass Anna Bolks kleiner Showblock mit einem Potpourri von Shirley Basseys „Goldfinger“ bis Marilyns „Diamonds are a girls best friends“ großartig ist, müsste eigentlich gar nicht mehr erwähnt werden.
AXEL SCHOCK
Nächste Vorstellungen bis 19. 1. sowie 22.–26. 1., Otto-Suhr-Allee 18, Charlottenburg
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