: Neuling mit sehr viel Erfahrung
Vor dem morgigen Finale der Australian Open gegen Titelverteidigerin Jennifer Capriati stilisiert sich Martina Hingis, die hier schon dreimal gewann, zur Außenseiterin
MELBOURNE taz ■ Samstagmittag, Ortszeit Melbourne kurz vor halb zwei, werden Jennifer Capriati und Martina Hingis wieder am Torbogen warten, der aus den Katakomben in die gleißend helle Arena führt. Sie kennen diese Stelle, sie kennen dieses Stadion, sie sind dieselben Personen, und doch hat sich manches geändert seit dem letzten Mal.
Als Hingis vor einem Jahr an dieser Stelle stand, da war sie diejenige, von der ein Sieg im Finale der Australian Open erwartet wurde. Vorher hatte sie zum ersten Mal in einem Turnier nacheinander Serena und Venus Williams besiegt, und man dachte: Das Schwerste hat sie hinter sich, jetzt ist sie so weit, dass sie nach zwei Jahren Pause wieder einen Grand-Slam-Titel gewinnt. Doch dann fehlten ihr Frische, Selbstvertrauen und Kraft, um auch nur einen Satz zu gewinnen. Das alles besaß Capriati an jenem Tag in Hülle und Fülle.
Die gewann ein paar Monate später auch den Titel in Paris, und die ersten redeten schon vom Grand Slam, doch dann verlor sie im Halbfinale in Wimbledon gegen Justine Henin und später bei den US Open in der gleichen Runde gegen Serena Williams. Es war das verrückteste, schönste, anstrengendste Jahr ihrer Karriere, aber am Ende war sie sichtlich geschafft. Die Pause, die sie sich im Winter gönnte, war länger als sonst, und als sie nach Australien kam, war sie nicht so fit wie im Jahr vorher. Der alte Kampfgeist ist aber unversehrt: Im gestrigen Halbfinale gewann sie gegen die Belgierin Kim Clijsters 7:5, 3:6, 6:1.
Sie weiß, woran es ihr fehlt, und sie weiß auch, dass Hingis besser in Form ist als vor einem Jahr. Zwar verlor die einen Satz im Halbfinale gegen Monica Seles (4:6, 6:1, 6:4), aber das lag vor allem daran, dass Seles am Anfang spielte wie zu ihrer besten Zeit in Melbourne vor zehn Jahren. Dieses Spiel zu gewinnen, war keine Kleinigkeit. Das Händchen hatte Martina Hingis immer, doch jetzt hat sie sichtlich mehr Ausdauer, Kraft und Form. Nie zuvor sah sie so gut, so austrainiert aus. Im Gegensatz zu Capriati hat sie im Winter in der erzwungenen Pause nach einem Bänderriss im rechten Knöchel nicht nur erkannt, was zu tun ist, sondern sie hat es auch getan.
Es hatte Momente gegeben in den vergangenen zwei Jahren, in denen es so aussah, als fehlten ihr die Luft und die Kraft, um die Williams-Schwestern, um Davenport oder Capriati bei den großen Turnieren zu schlagen, doch nun ist die Grundlage da, und bis zum nächsten Titel ist es nur eine Frage der Zeit. Das ist auch Capriati nicht verborgen geblieben. Deren Urteil über die Form der Gegnerin, in knappen Worten zusammengefasst: frischer, schlanker, schneller, fitter.
Doch wie auf dem Tennisplatz hat Martina Hingis auch sonst einen untrüglichen Instinkt, wie man Gegner mit taktischem Spiel in die Enge treiben kann. „Jennifer ist diejenige, die den Titel verteidigen muss, und ich werde der Neuling sein“, sagt sie. Ein Neuling mit der größten Erfahrung, die man sich vorstellen kann. Dreimal hat sie in Melbourne gewonnen, zum sechsten Mal in Folge steht sie im Finale.
Ob Hingis nach drei Jahren des Wartens und des Suchens bereit ist für den Coup Nummer vier in Melbourne? „Natürlich fragt man sich, ob man noch in der Lage ist, einen Titel zu gewinnen, wenn man das eine Zeit lang nicht mehr getan hat“, sagt sie. „Aber ich hab früher gewonnen, und es gibt keinen Grund zu glauben, dass ich das nicht wieder kann.“ DORIS HENKEL
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