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Kinderarmut grassiert massenhaft

Wenn Jugendministerin Bergmann morgen den elften Kinder- und Jugendbericht vorstellt, werden wieder alle erschüttert auf die Zahlen zur sozialen Situation Minderjähriger schauen. Aber wo bleibt Bergmanns Beitrag zur Armutsbekämpfung?

von CHRISTIAN JAKOB

Morgen wird die Bundesregierung den neuen Kinder-und Jugendbericht vorstellen. Es ist die elfte Übersicht über die soziale Lage von Kindern und Jugendlichen, und es wird die elfte Bilanz eines stetig drängender werdenden Problems sein: Armut von Minderjährigen. Nicht erst seit der Pisa-Schulleistungsstudie ist bekannt, dass der Zusammenhang zwischen Armut und Bildung sich messen lässt und gesellschaftlich auswirkt.

1999 legte die Jugend- und Familienministerin Christine Bergmann (SPD) ein Programm mit dem Titel „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ auf, das eine stärkere Vernetzung zwischen Jugendhilfe, Arbeitsverwaltung und Sozialamt anstrebt. Dadurch sollte konkret und vor Ort Armut von Kindern und Jugendlichen bekämpft werden. Ergebnis bislang: keines. Demnächst werde ein Zwischenbericht erwartet, heißt es im Ministerium.

Vielleicht sollte man im Hause Bergmanns etwas auf die Tube drücken. Bereits der letzte Kinder- und Jugendbericht von 1998 hat gezeigt, dass Kinderarmut zunimmt. 860.000 Kinder- und Jugendliche, so der Bericht, lebten damals von Sozialhilfe. 2001 waren es schon eine Million. Die Arbeiterwohlfahrt geht davon aus, dass die Zahl der hilfsbedürftigen Kinder und Jugendlichen sogar doppelt so hoch ist. Zwei Millionen also, die nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, die kein geordnetes soziales Umfeld und eine schlechte oder gar keine Ausbildung haben. Viele der Unter-18-Jährigen waren noch nie bei einem Facharzt. 7.000 Kinder leben auf der Straße, schreibt die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht 2001.

Dass für die Kinder etwas getan werde, zeige die Erhöhung des Kindergeldes und die Anhebung der Steuerfreibeträge, erklärt eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums. Dies seien große Schritte zur Entlastung der Familien.

Es geht aber gar nicht nur um finanzielle Probleme. Häufig gibt es auch eine ganze Reihe von psychischen Problemen, die Heranwachsenden zusetzen. „Viele Minderjährige leben in zerrütteten Familien“, sagt Kurt Wahlen, Leiter eines Berliner Beratungsbüros für Kinder, Jugendliche und Familien. „In solchen Familien, aus denen viele Härtefälle kommen, kümmern sich die Eltern nicht um ihre Kinder. Immer neue Lebenspartner und häufige Wohnortwechsel der Eltern zerstören die soziale Basis von Kindern und Jugendlichen.“ Armut und damit zusammenhängende psychische Probleme gibt es allerdings auch bei solchen Kindern, die in einem intakten sozialen Umfeld leben. „Das fängt schon beim schlechteren Spielzeug an“, erklärt der Psychologe Wahlen. Auch coole Markenklamotten könnten sich viele Jugendliche nicht leisten und fühlten sich deswegen unterlegen.

Armut ist ein Teufelskreis, in dem Geld- und Bildungsmangel einander bedingen – bis zur völligen Orientierungslosigkeit. Jugendliche haben „häufig überhaupt keine Vorstellung von Berufsbildern“, erklärt Louis Kaufmann, Geschäftsführer der Gesellschaft für berufsbildende Maßnahmen, einer Sozialstation für Jugendliche in Berlin-Kreuzberg. In Kaufmanns Sozialstation können Jugendliche eine Lehre machen, die auf dem freien Markt keine Lehrstelle bekommen. So gelangen sie – nach Möglichkeit – auf Umwegen an einen Berufsabschluss.

Dass solche Maßnahmen dringend notwendig sind, verdeutlichen die Statistiken. Demnach seien, so erklärt Kaufmann, 30 Prozent der Jugendlichen in seinem Bezirk arbeitslos. „Jeder zweite ist sogar ohne Schulabschluss.“ Selbst wenn die Jugendlichen eine Lehre bei der Sozialstation vermittelt bekommen, sei das allerdings noch keine Erfolgsgarantie, sagt Kaufmann. Die Hälfte der jungen Leute bricht die Lehre ab, weil sie es einfach nicht schafft, pünktlich oder überhaupt zur Arbeit zu kommen.

Armut werde immer mehr zum Massenphänomen, „und das Ganze wird wahrscheinlich noch schlimmer“, denkt der Psychologe Wahlen. Seine Beratungsstelle ist voller Jugendlicher, erklärt er, „weil sie mit ihrem eigenen Leben nicht mehr fertig werden.“

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