Gelobt, aber gut geschützt

Eine merkwürdige Position zwischen der Spitze des Matterhorns und dem Schokoladenmodell von Toblerone: Der Neue Berliner Kunstverein zeigt zeitgenössische Fotokunst aus der Schweiz

Von allen Arbeiten sind die mit dem Epitheton „Schweizer“ die interessantesten

„Die Dichte der Fotografie in der Schweizer Kunst ist groß, die Qualität ist hoch, die Vielfalt enorm.“ Urs Stahel, Direktor des Fotomuseums in Winterthur, der wichtigsten und finanzkräftigsten Institution für Gegenwartsfotografie in der Eidgenossenschaft, weiß, wovon er spricht. Während der 90er-Jahre organisierte er drei Überblicksausstellungen, die die explosionsartige Entwicklung des Mediums Fotografie innerhalb der Schweizer Kunstszene treffend dokumentierte. Mit seiner Ausstellung „Zeitgenössische Fotokunst aus der Schweiz“ zeigt er jetzt im Neuen Berliner Kunstverein so etwas wie die Spitze des Matterhorns.

Doch statt auf granitenen Widerstand zu stoßen, glaubt man eher das Schokoladenmodell von Toblerone zu goutieren. Direkt im Eingangsbereich sieht man Daniel Buettis „Joy of my life“, einen großen, rechteckigen Leuchtkasten, der wie eine Wand in den Raum montiert wurde. Auf dem Bildschirm eines integrierten Video-Monitors und auf den vorderen Seiten des Kastens sind weibliche Fotomodelle aus Zeitschriften zu sehen. Mit Hilfe gestanzter Lichtlöcher und gepunkteter Wörter hat sie Buetti mit existenziellen Fragen überschriftet („Is life really worth living?“) und dann als Lampionblätter benutzt. Obwohl das Ganze zweifellos hübsch aussieht – so hübsch mindestens wie die Models und die poppigen Farben –, wirkt die aufwändige Installation irritierend. Nicht nur wegen der monotonen New-Age-artigen Meditationsmusik, die dazu blubbert und eine ruhige Betrachtung der anderen Arbeiten unmöglich macht. „Joy of my life“ zeigt vor allem die peinliche Bemühung Buettis, seit Jahren etwas in der Art von Thomas Hirschhorn zu machen.

Um glamouröse Sehnsüchte, Identitätssuche und Ich-Spaltung geht es auch in Ugo Rondinones Bilder aus seiner Reihe „I don’t live here anymore“. Auf den sechs großformatigen Digitalprints, die Rondinone vor einer knallgrünen Wand präsentiert, hat der Künstler mittels digitaler Bildverarbeitung sein Gesicht auf den Körper von Frauen montiert. Trotz lässiger Pose und enger schwarzweißer Kleider wirkt das Illusionsspiel unaufregend. Das Vorgehen und sein Ergebnis – ein leicht bärtiges Gesicht über langen, dünnen Frauenbeinen – erinnern zu sehr an die Situation, wo Menschen durch ein Loch ihr Gesicht zeigen, damit dieses über die gezeichnete Figur einer Berühmtheit fotografiert wird.

Neben Buetti und Rondinone setzen weitere fünf von insgesamt neun präsentierten Positionen auf Großformate und aufwändiges Material. Das ist viel für eine kleine Ausstellung, passt aber gut zu den aktuellen Tendenzen und Forderungen des Kunstmarktes. Die zum Teil sehenswerten Arbeiten verhindern trotzdem nicht das Gefühl, in der Schweiz werde nicht unbedingt anders als sonst wo fotografiert – sei es von der thematischen Auswahl her oder die künstlerische Strategie betreffend: Für präzisionsbesessene oder ästhetisch verfeinerte Blicke sind Stadt- und Naturlandschaften immer wieder attraktiv, so bei Claudio Moser, Annelie Strba oder Cat Tuong Nguyen. Die Abstraktheit der Wissenschaft fasziniert und spiegelt sich in noch mehr Abstraktion wider, wie bei Hans Danusers Serie „Frozen Embryo“. Und Katrin Freisager untersucht in „to be like you“ die Einsamkeit des Körpers bis ins letzte Detail seiner Haut.

Merkwürdigerweise sind die Arbeiten die interessantesten, zu denen das Epitheton „Schweizer“ am besten passt. Nicht nur weil sie kleine Formate gewählt haben oder weil dort die einzige Abbildung einer Schweizer Fahne zu sehen ist, sondern weil sie durch ihren dokumentarischen und politisch engagierten Gestus an die ältere Tradition der Schweizer Dokumentarfotografie anknüpfen.

In seinen vier Serien mit Alltagsaufnahmen zeigt Peter Tillesen skurrile und „degenerierte Bilder“ – so der Titel einer Serie – aus dem Wohlstandsland Schweiz und reflektiert zugleich mit viel Ironie über die Grenze zwischen Kunst und Leben. Während unter dem Titel „Aktionskünstler“ brave Schweizer Bürger vor den gut gefüllten Regalen der nationalen Supermarktkette Migros mit dem unendlichen Warenangebot kämpfen, zeigen die Bilder der Serie „Kunst am Bau“ zufällig liegendes Baumaterial, das stark an die Fakes von Fischli/Weiß erinnert.

Mit seiner 54-teiligen Serie „Shadowing The Invisible Man“ geht Marco Polloni den mühsamen und bisweilen gefährlichen Weg nach, den derjenige machen muss, der in das gelobte Land mit dem weißen Kreuz gelangen will. Pollonis Arbeit nimmt bewusst die Form eines Drehbuches an und stattet seine Farbbilder mit technischer Information wie der Szenennummer, der Tageszeit, dem Drehort usw. aus. Film sollen die Bilder aber nur im Kopf des Betrachters werden. Von der adriatischen Küste bis zum Tessin über das Bahnhofsgelände von Lecce und die Vororte von Mailand zeigen Pollonis Fotos die Welt aus der Sicht eines Menschen, dessen einzige Chance, in der Schweiz vielleicht Asyl oder Arbeit zu finden, in seiner Unsichtbarkeit besteht.

Pollonis sensibler und poetischer Reisebericht erinnert daran, dass das Inselland Schweiz nicht nur durch die natürliche Grenze der Alpen geschützt wird. Die immer härter werdende europäische Migrationspolitik, also die künstlichen Barrieren des Schengener Abkommens wie die Carabinieri von Berlusconi helfen tüchtig mit. YVES ROSSET

bis 24. 2, Chausseestraße 20, Berlin-Mitte, Katalog 19 €