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Das Pippi-Langstrumpf-Prinzip

Schwedens Kindergärten heißen Vorschulen und machen vor, was sich hier keiner vorstellen kann: Eine Klasse versammelt alle Leistungsniveaus

STOCKHOLM taz ■ Astrid Lindgren ist nicht tot. Ihre Villa Kunterbunt steht hier am Stockholmer Ystadweg 38. Pippi Langstrumpf sitzt da, allerdings ohne Zöpfe. Die Dreijährige zieht den Pinsel hingebungsvoll erst durch Wasserfarben, dann über ein Blatt Papier. Michel aus Lönneberga heißt Jakob. Von draußen pochen dicke Schneeflocken an die Fenster.

Jakob und seine Freunde von den Dreijährigen, der „Grashüpfer“-Gruppe, haben die Spielküche flachgelegt. Alle Schubladen sind herausgezogen. Kartons purzeln umher. Kindergärtnerin Julia aber ist ganz entspannt. Den Mittagsschlaf beendet eben jeder Grashüpfer auf seine Weise. Tilda und Vilma beispielsweise malen lieber Buchstaben. „Tilda kann ihren Namen schreiben“, sagt Julia – „wenn sie Lust hat.“

Im Vergleich zu Ekbacken sind die allermeisten deutschen Kindergärten wohl kleine Kadettenanstalten. Diese Villa Kunterbunt ist aus Holz gebaut. Genau heißt sie „Ekbacken-Vorschule“ und ist einer jener Kindergärten für Ein- bis Fünfjährige, für die Schweden so viele Lorbeeren einheimst. Die Vorschulen müssen so lange geöffnet haben, wie es für die Eltern nötig ist. Notfalls bis in den frühen Abend. Und sie sind, so garantiert es das Gesetz, für alle da. Drei Viertel der Ein- bis Fünfjährigen besuchen sie.

Da ist Schweden genauso Vorbild wie mit seinem ganzen Schulsystem. Hier und in Finnland, dem anderen Bildungswunderland Europas, gehen alle Schüler neun Jahre lang auf die gleiche Schule – und erzielen trotzdem Topergebnisse. Seit 1998 gibt es nämlich einen Bildungsauftrag für die Vorschulen. Schwedens Parlament hat ein Curriculum, einen Lehrplan mit Bildungszielen wie Demokratie, Mitgefühl oder Rechnen und Musik für alle Vorschulen verpflichtend gemacht. Außerdem müssen sie echte Lehrer beschäftigen.

Der Lehrplan ist nicht leicht zu verstehen. Zwar enthält er Bildungsziele, aber sie werden nicht kontrolliert. Dass Tilda ihren Namen schreiben können müsste, steht nicht im Lehrplan. Wie die Lehrer die Ziele umsetzen, ist ihre Sache, genauer: die der Kinder. Ein Pippi-Langstrumpf-Prinzip.

Formell heißt es „individuelle Förderung“. Es ist die Grundlage dafür, verschiedene Leistungsniveaus in einer Klasse zu unterrichten. Alle machen etwas anderes, keiner wird aussortiert. In Deutschland fragen sich Lehrer: Was mache ich morgen mit meiner Klasse? In Schweden lautet die Frage: Wer lernt mit wem?

Simon, Bianca und Philipp von den Vierjährigen schlüpfen derweil in ihre Schneeanzüge. Sie wollen raus. Was macht ihr jetzt? „Das werden wir schon sehen“, sagt Simon selbstbewusst. Er wird die Orte auf der tief verschneiten Wiese, die für Erwachsene Holzverschläge sind, in ein Flugzeug verwandeln – oder ein Feuer. Genau wie Pippi Langstrumpf. CHRISTIAN FÜLLER

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