Kosten, Nutzen und Gewissen

Die meisten Abgeordneten des Bundestages sehnten sich nach Klarheit, doch am Ende der Debatte siegte ein umständlicher Kompromiss

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Es war eine Entscheidung zwischen Klarheit und Konsens. Klarheit versprachen die beiden Anträge, die sich eindeutig für oder gegen die Forschung an Embryonen und deren Verbrauch aussprachen. Konsens versprach der „Nein, aber“-Antrag der Vorsitzenden der Medizin-Enquetekommission Margot von Renesse (SPD), der früheren Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) und der Unions-Fraktionsvizechefin Maria Böhmer. Dieser Antrag, dem sich auch der Kanzler angeschlossen hatte, bekam dann eine deutliche Mehrheit.

Dabei wollten die meisten Abgeordneten lieber Klarheit haben. Sie konnten nicht so viel anfangen mit der Konsensfraktion, ihrem Winden im Zweifel und den vielen Brüchen in der Argumentation. So stimmten im ersten Wahlgang 263 für ein klares Nein – den Antrag von Monika Knoche (Grüne), Wolfgang Wodarg (SPD) und Hermann Kues (CDU) – und 106 für ein klares Ja. Doch es reichte bei beiden nicht für die Mehrheit. Und weil sich die beiden Anträge ausschlossen, erlangte der dritte Antrag die Mehrheit, obwohl er im ersten Wahlgang nur auf 226 Stimmen kam. Fast alle „Ja“-Sager waren übergesprungen und wollten wenigstens den Import sicherstellen.

Der Wunsch nach Klarheit hatte sich schon früh abgezeichnet. Es war Monika Knoche mit ihrem Plädoyer für ein klares „Nein“, die gleich zu Anfang besonders viel Applaus bekam. Knoche sprach in ihrem etwas fremd anmutendem Singsang, die Hände fest am Pult, eine klare Rede. Sonst eckt sie oft an mit ihrer hermetisch wirkenden akademischen Ausdrucksweise. Doch gestern machte genau das ihren von Zweifeln freien Beitrag so erfrischend. „Der Embryo ist in die Welt gekommen durch die künstliche Befruchtung“, erklärte Knoche. „Er ist handhabbar geworden – und schon werden die Begehrlichkeiten wach, aus ihm ein Produkt zu machen.“

Das eben sei das Problem. Es sei falsch, einem Embryo ohne Aussicht auf einen Uterus, der ihn austragen könnte, die Menschenwürde abzusprechen. Auch dieser Embryo habe einen Lebenswille aus. „Wir haben kein Dilemma“, schloss Knoche, „der Ausweg ist, den Status quo zu bestätigen.“

Bis zum Schluss blieb offen, wer gewinnt. Mit dem Kompromiss ging am Ende der Kanzler siegreich aus der Abstimmung hervor. Am Vorabend hatte er seine Fraktion noch eingeschworen, zusammen mit Fraktionschef Peter Struck. Der war am Dienstagabend wie immer nach einer Fraktionssitzung vor die Presse getreten: Er hoffe, dass der Antrag von Margot von Renesse die Mehrheit bekomme. Als ob es keine Andersdenkenden in seiner Fraktion gäbe. Dabei hätte er fairerweise auch den Importgegner Wodarg aus seiner Fraktion mit vor die Presse nehmen können. Offenbar so stark war der Druck auf die Gegner, dass Ernst-Ulrich von Weizsäcker Journalisten ungefragt erzählte, der Kanzler habe ihn für seine Ablehnung des Imports angegriffen.

Für den Kanzler stand eben mehr auf dem Spiel: Angeschlagen durch die Probleme seiner Minister Schily, Scharping und Eichel, konnte er schlecht noch eine Abstimmungsniederlage bei seinem forschungsfreundlichen Kurs gebrauchen. Kein Wunder, dass gestern kein einziger Minister, sondern nur der Kanzler selbst „als Abgeordneter“ das Wort ergriff. Justizministerin Däubler-Gmelin schwieg, obwohl sie zuvor verfassungsrechtliche Gründe zur Ablehnung der Stammzellenforschung formuliert hatte.

Schröder setzte in seiner Rede auf die Macht des Konsenses. Nur wenige ethische Argumente brachte er für den Renesse-Antrag. Er pries stattdessen den Kompromisscharakter dieses Antrags und verwies auf die Praxis in den USA, Israel und anderen Ländern Europas. Nur wenn man den Import erlaube, könne man ethische Entscheidungen international noch „mit Gewicht“ beeinflussen. Er selbst habe „einige Bedenken“, stimme aber für den Renesse-Antrag – ein Kompromiss mit sich selbst also.

Argumentationsstärker trat Margot von Renesse selbst auf. Sie wies auf das Dilemma hin, sich an der Erforschung der Stammzellen nicht zu beteiligen, hinterher aber selbstverständlich die daraus resultierenden Medikamente zu importieren. Nicht einmal „katholische und evangelische Krankenhäuser“ würden es wagen, solche Therapien zu verweigern. Sie könne zwar die „Angst vor dem Verrohungspotenzial der Moderne“ verstehen, dem würde sie aber auch einen Riegel vorschieben, indem nur solche Stammzellen importiert werden dürften, die bereits gezüchtet wurden. „Durch unseren Antrag wird kein Embryo vernichtet.“

Auch die frühere Gesundheitsministerin Andrea Fischer betonte diesen Punkt. „Es geht hier nicht um die Wahl zwischen In- und Ausland, sondern um den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ Es dürften nur Stammzellen aus dem Ausland genutzt werden, weil die bereits entstanden seien. Ein mehrfach vorgebrachtes Argument, das die Importgegner als eine „nachträgliche Billigung“ des Embryonenverbrauchs kritisierten.

Doch es fiel auf, dass Fischer die Grenzen der Forschung deutlicher betonte als Renesse und Schröder und vor einer „Bagatelliserung des Tötens“ warnte. Die beiden SPDler hatten dagegen so über die Embryonenforschung geredet, als sei die Schaffung neuer Wunderarzneien nur eine Frage der Zeit. Doch schließlich betonte auch Fischer den Konsens: „In einer pluralistischen Gesellschaft haben Konsense in moralischen Fragen einen besonderen Wert.“

Von Anfang an auf verlorenem Posten standen die Abgeordneten um Ulrike Flach (FDP) und Katharina Reiche (CDU), die glasklar „Ja“ zur Embryonenforschung sagten. Für Reiche, wie die meisten ihrer Anhänger, hat ein Embryo erst ab der Einnistung in die Gebärmutter so etwas wie eine Menschenwürde. Die „Ja“-Anhänger wollten zur Not auch hierzulande Stammzellen für Therapiezwecke aus überzähligen Embryonen herstellen. Reiche leitete das direkt aus „dem christlichen Auftrag“ her, „sich die Welt untertan zu machen“. Am Ende bekamen sie mit 106 Stimmen eine überraschend große Zustimmung.