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Immer Kribbeln im Bauch

Beim Skiclub Schonach im Schwarzwald lernen bereits Kinder, wie man von Schanzen springt. Dass sie dabei auch Angst empfinden, ist völlig normal. Sagt zumindest ihr Trainer. Doch nur wer die Furcht vor dem Absturz immer wieder aufs Neue überwindet, hat Chancen, den optimalen Sprung zu finden – und später vielleicht einmal olympische Medaillen zu gewinnen

von FRANK KETTERER

Dominik war neun, als er, eher durch Zufall, zum Skispringen kam. Er hatte es im Fernsehen gesehen, und es hatte ihn fasziniert – dass Menschen durch die Luft fliegen können wie Vögel, obwohl das doch eigentlich gar nicht geht. „Da hab ich mir gesagt: Das will ich auch mal machen“, sagt Dominik, heute elf Jahre, der mit seiner Familie in Tennenbronn im Schwarzwald lebt, was eine gute Voraussetzung ist, um so einen wagemutigen Plan auch in die Tat umzusetzen.

Nur fünfzehn Kilometer von Tennenbronn entfernt, am Ortsausgang von Schonach, schmiegen sich nämlich gleich drei Skisprungschanzen sanft an den Berg. Dass sie verschieden hoch und groß sind, prädestiniert den Schwarzwaldort zum idealen Lehrplatz für Kinder, die können wollen, wovon der Mensch träumt: fliegen, wenn auch nur für ein paar Sekunden und mit langen Brettern unter den Füßen.

Das mag sich durchaus etwas großspurig anhören, aber genau das ist der Punkt beim Skispringen. „Es ist ein unvergleichliches Gefühl, zu fliegen“, sagt Ulrich Gasche. Und auch, dass es letztlich immer nur darum geht, wenn sich Menschen in rasender Geschwindigkeit eine Schanze hinunterstürzen: „um dieses Gefühl, um das Erlebnis, dass es mich durch die Luft trägt“. Das, sagt Gasche, sei die Motivation, der Motor, immer wieder zu springen – und immer weiter. „Und je größer die Schanze wird, um so schöner ist es.“

Man kann Ulrich Gasche das ruhig glauben; er weiß, wovon er spricht. Als junger Mann ist er ja selbst von Schanzen gesprungen, bevor er dann Trainer wurde. Über dreißig Jahre ist das jetzt her. Wobei sich Gasche, der außerdem Konrektor an der Grund- und Hauptschule in Schonach ist, von Anfang an ganz besonders um den Nachwuchs gekümmert hat. Momentan trainiert er beim Skiclub Schonach rund 25 Kinder, Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf und dreizehn.

Wenn heute die Schmitts und Hannawalds aus dem Schwarzwald alle Medaillen und Titel, die es zu sammeln gibt, auch einheimsen, vielleicht auch demnächst in Salt Lake City, dann hat Gasche immer ein bisschen Anteil daran, weil sie alle irgendwann einmal unter seiner Anleitung trainiert haben, auch wenn er das selbst nie so deutlich hervorheben würde.

Es lohnt sich also, zu Ulrich Gasche in den verschneiten Schwarzwald zu fahren, ein paar Stunden in eisigem Schneesturm an der Schanze zu stehen und anschließend bei einer heißen Schokolade im Gasthaus Rebstock zu fragen: „Herr Gasche, wie lernt man eigentlich Ski springen?“ Uli Gasche denkt, das Haar noch zerzaust vom Eiswind, kurz nach, bevor er einen Vergleich aus einer anderen Sportart wählt, um einem das besser erklären zu können.

„Das ist wie beim Turmspringen“, erklärt Gasche mit ruhiger Stimme und in jenem weichen Singsang, der den Menschen im Schwarzwald eigen ist und in dem auch Martin Schmitt Fragen beantwortet. „Beim Turmspringen“, erklärt er also, „fängt man ja auch am Beckenrand an, bevor man vielleicht irgendwann einmal auf den Zehnmeterturm steigt.“ Genauso sei das auch beim Skispringen.

Das ist ein schöner Vergleich, weil so ziemlich jeder schon einmal im Schwimmbad vom Rand ins Becken gesprungen ist, und dann vom Einmeterbrett und vom Dreimeterturm, und später vielleicht sogar vom Fünfer und vom Zehner, und sei es nur, um den Mädchen oder Jungen aus der Klasse zu imponieren. Und jedes Mal wenn es wieder eine Stufe höher ging, hat es Mut gekostet und Überwindung, und man hatte diese „Kribbeln im Bauch“, das auch Dominik, wie er erzählt, verspürt hat, als er das erste Mal eine Schanze hochgestiegen und hinabgesprungen ist.

Ein Gefühl, das ihn sein Skispringerleben lang begleiten wird, ganz egal wie lange es dauert. „Aber ein bisschen Angst bleibt immer“, sagt Uli Gasche, und es ist dabei ganz egal, ob einer Dominik heißt und erst anfängt mit der Springerei oder Hannawald und eine lebende Legende ist.

Es geht beim Skispringen ja auch nicht gleich mit hundert Meter weiten Sätzen los, sondern mit ganz kleinen Sprüngen, eher Hüpfern noch, von einer ganz niedrigen Schanze und auch dort zunächst nur mit halbem Anlauf, um die Sache für die Kinder nicht zu schnell werden zu lassen – und die Angst nicht zu groß. „Es ist ganz wichtig, dass das systematisch gelernt wird, Schritt für Schritt“, sagt Uli Gasche.

Die Schanzen sollen mit den jungen Springern quasi mitwachsen. So geht es dann von der kleinen auf die Zwanzigmeterschanze, die schon einen richtigen Schanzenturm aus Holz hat und so heißt, weil sie für Zwanzigmetersprünge ausgelegt ist. Später, wenn auch das zur Routine geworden ist, steht der Wechsel auf die Vierzigmeterschanze an, noch später der auf die Sechzig- und die Neunzigmeterschanze.

Und immer springt, wie gesagt, ein bisschen die Angst mit. Und nie weiß man, ob ein Kind den Wechsel von der einen auf die nächstgrößere Schanze auch wirklich auf die Reihe bekommt, ob es genug Mut aufbringt, sich erneut überwinden kann, diesmal von noch weiter oben. „Zwanzig bis dreißig Prozent schaffen es erst gar nicht auf die Vierzigmeterschanze“, weiß Gasche aus Erfahrung.

Beim Wechsel auf die Sechzigmeterschanze sind es etwa noch mal so viele, die aufgeben. „Manchem werden die Schanzen dann einfach zu groß, sie passen nicht mehr“, sagt der Trainer. Und selbst bei denen, die es sich zutrauen, kann das Ende der Skisprungkarriere von einem Sprung auf den anderen kommen. „Ein einziger Sturz kann das Aus bedeuten“, weiß Gasche; dann nämlich, wenn er sich festfrisst im Gedächtnis und die schlechte Erfahrung das gute Gefühl des Fliegens vergessen lässt.

Für Uli Gasche ist Skispringen deswegen „auch eine Art Lebensschulung“, weil man eben auch im ganz normalen Leben immer wieder auf Hindernisse stößt und diese überwinden muss, gerade so wie den nächsten Sprung. Joachim Baumann, Dominiks Vater, kann dem Trainer da nur beipflichten. „Total gereift“ sei der Sohnemann, seit er Ski springe, und das mache sich übrigens auch in der Schule bemerkbar, wo Dominik in „allem besser geworden“ sei. „Er hat gelernt, sich zu überwinden“, sagt Dominiks Vater. Früher, bevor er von Schanzen sprang, war das nicht unbedingt Dominiks Stärke.

„Skispringen spielt sich zu achtzig Prozent im Kopf ab“, fasst Uli Gasche all seine Erfahrung zusammen, der Rest, also die Grundtechnik, behauptet er, sei gar nicht so schwer zu erlernen. „Es handelt sich dabei ja um eine recht einfache und natürliche Bewegung.“ Deren Ablauf lernen die Kinder ohnehin nicht im Winter auf der Schanze, sondern während der langen Sommermonate und zum gut Teil in der Sporthalle, bei Trockenübungen, die die Skispringer „Imitation“ nennen.

Uli Gasche zum Beispiel hat seinen Schülern ein Wägelchen gebaut, auf das sich die Kinder stellen können – in der Skisprunghocke natürlich. Das Wägelchen rollt dann wie auf Schienen eine schiefe Ebene hinab, und wenn es unten angekommen ist, springen die Kinder ab wie vom Schanzentisch und mitten hinein in ein Meer weicher Matten.

Immer wieder machen sie diese und andere Übungen, und ganz automatisch schleift sich dabei jene Bewegung ein, die eigentlich aus vier Sequenzen – Anlauf, Absprung, Flug und Landung nämlich – besteht und die am Ende, also auf der Schanze, doch immer zu einem Ganzen verschmilzt: zum Skispringen.

Rund zwei Jahre oder gut eintausendfünfhundert Sprünge braucht es, bis ein Kind die Elementartechnik beherrscht. Das letzte Quäntchen lässt sich aber nicht wirklich erlernen. „Ein besonders guter Sprung ist immer nur gefühlt“, sagt Uli Gasche, „das ist mit Technik allein nicht zu machen.“

Manchmal kommt es vor, dass einem bisher eher mittelmäßigen Springer wie aus heiterem Himmel ein solch besonders guter Sprung gelingt und er plötzlich, als hätte jemand einen Hebel in seinem Kopf umgelegt, weiß, wie es geht, das Skispringen, weil er weiß, wie es sich anfühlt. „Das ist ein Bewegungsablauf, den man speichert und der dann auch wieder abrufbar ist“, erklärt Gasche, und einen Springer innerhalb nur einer Woche zur lebenden Legende machen kann, weil er allen anderen einfach davonfliegt, weil er ja jetzt weiß, wie es geht.

Ob Dominik aus Tennenbronn dieses Gefühl einmal erleben wird, lässt sich heute noch nicht sagen, er ist ja erst elf. Vielleicht wird er sein Skispringerleben lang nach diesem einen Sprung suchen, ohne ihn je wirklich zu finden. Vielleicht aber wird ihm auch irgendwann vorher schon die Schanze zu groß, und er will einfach nicht mehr hinauf. „Dann“, sagt Dominiks Vater, „hören wir von heute auf morgen mit dem Skispringen auf.“

FRANK KETTERER, 35, gebürtiger Badener und seit 2001 Redakteur der taz-Leibesübungen, hat seinen perfekten Sprung noch vor sich.

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