Viele kalte Krieger

Eiskunstlaufen zählt zu den beliebtesten olympischen Sportarten. Helden und Heldinnen wie Katarina Witt oder John Curry, Eistänzer wie Jane Torvill und Christopher Dean und Paarläufer wie Irina Rodnina und Alexander Saizew hat es hervorgebracht. Allerdings hat diese Disziplin seit Ende des Ost-West-Konflikts viel von ihrer Spannung verloren

von JAN FEDDERSEN

Andrejs Vlascenko ist ein Mann, der sich sehr gut darauf versteht, auf Schlittschuhen in verschiedene Richtungen zu laufen. Er macht auf dem Eis einen sicheren Eindruck, dreht Kringel und springt das Gros der verschiedenen Sprünge mit dreifacher Rotation. Mitte der Neunziger Jahre lockte die Deutsche Eislauf-Union ihn aus seiner lettischen Heimat, auf dass er künftig für Deutschland starte. Mit dem eingeborenen Nachwuchs war es damals nicht so gut bestellt, und ist es bis heute nicht. Ihn einzubürgern schien einfach, denn Vlascenko wurde in Weimar als Sohn eines dort stationierten sowjetischen Soldaten geboren.

Vlascenko nahm alle Angebote dankbar an, denn Geld gab es in Deutschland mehr als in Lettland – und bessere Trainingshallen, lichtere Städte nebst einem lockeren Nachtleben. Einen deutschen Pass erhielt er bis heute nicht, und deshalb darf er auch nicht mit dem schwarzrotgoldenen Team nach Salt Lake City reisen. Vlascenko erwies sich nämlich als einem sehr lockeren Leben zugeneigt und wurde einige Male zu viel von der Polizei dabei erwischt, mit mehr als den zulässigen Promille Alkohol im Blut Auto gefahren zu sein. Ohne deutsche Papiere kein Olympiastart – und keiner springt dem gebürtigen Letten bei. Denn erstens hat Vlascenko, wie zuletzt bei den Europameisterschaften, nie überragende Leistungen gezeigt, ein ums andere Mal strauchelte er bei seinen Sprüngen; aber zweitens hat dieser Eiskunstläufer nie die Herzen seiner möglichen deutschen Fans berührt, denn Laxheit wird vom Publikum nur geduldet, wenn sie mit Kompetenz gepaart ist; drittens und entscheidend aber ist, dass Eiskunstlaufen überhaupt seinen Reiz früherer Jahre verloren hat, nicht nur in Deutschland.

Beispielsweise 1976. Damals gewann ein Brite namens John Curry den Männerwettbewerb („Herren“ pflegt man gewöhnlich in dieser Szene zu sagen). Der Brite war sportlich kaum besser als seine nächsten Rivalen, sein „künstlerischer Ausdruck“, der sich in dieser Disziplin in der Kür-B-Note ausdrückt, war aber von vollendeter Eleganz – weshalb sich Curry den Verdacht zuzog, schwul zu sein. Die norwegische Eislauflegende Sonja Henie (Goldmedaillen 1928 und 1932) fühlte sich offenbar persönlich beleidigt und forderte, sie wünsche, dass mal wieder ein Mann gewinne. So waren die Zeiten – Homosexualität war ein Makel und das Mannsein auf dem Eis an rüde Sportlichkeit geknüpft.

Ein solcher Anwurf ist heutzutage undenkbar, ohne das Publikum zu langweilen. Selbst die Frauen treten mittlerweile in Kostümen auf, die vor zwei Generationen nur in Rotlichtrevuen zu sehen waren. Moralisch ist fast alles erlaubt, außer dass man versucht, der direkten Konkurrenz die Schienbeine mit einer Methode zu malträtieren wie beim Barren – der Sieg per Eisenstange. Einem solchen Attentat zum Opfer fiel kurz vor den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer die Eisläuferin Nancy Kerrigan. Wie sich herausstellte, steckte hinter diesem Mobbing ihre Rivalin Tonya Harding – die darob zur Aussätzigen wurde und auch bei einem geglückten siebenfachen Axel nicht aufs Treppchen gewertet worden wäre.

Aber selbst dieser Skandal war nur ein letzter Muckser einer ehedem charismatischen Sportart, ehe sie – bis heute – einer gewissen Interesselosigkeit beim Publikum anheim fiel. Kaum noch Wirbel machte Oksana Bajul, die 1994 der Kerrigan die Goldmedaille wegschnappte. Die Ukrainerin, die daraufhin in die USA auswanderte und dort den typisch proletarisch-sowjetischen Traum vom Aufstieg als Schauspielerin träumte, löschte ihren Durst mehr und mehr mit Wodka und Brandy – und fand sportlich nie auf die Füße.

In Salt Lake City wird keine Entscheidung im Eiskunstlauf wirklich die Gemüter bewegen. Im Eistanzen sind die Hierarchien ohnehin stets lange ausgemauschelt, was bedeutet, dass die Franzosen Marina Anissima und Gwendal Peizerat gewinnen werden; das Paarlaufen wird entschieden zwischen den Chinesen Xue Shen und Hongbo Zhao sowie den Russen Elena Bereschnaja und Anton Sicharulidze. Bei den Männern läuft es auf ein Duell zwischen den Russen Jewgenij Pluschenko und Alexej Jagudin hinaus – wer von ihnen die Kür wacklerfrei übersteht, hat gewonnen.

Auch die tränensatte Konkurrenz der Frauen deutet auf keinen Thrill für die Zuschauer hin: Ob nun Michelle Kwan für die USA gewinnt oder doch eine der Russinnen Irina Slutskaja oder Maria Burtirskaja, die aktuelle Europameisterin – niemand zittert oder fiebert mit.

Ebendies hat seinen Grund im Fall des Eisernen Vorhangs und zugleich im Zeitgeist des anything goes: Politisch ist ohnehin alles einerlei, stilistisch und modisch ebenso. Verboten wäre nur Nacktheit, selbst wenn sie auf Schlittschuhen daher käme.

Früher umwehte das Eiskunstlaufen noch die Atmosphäre der Systemkonkurrenz. Die Deutschen Marika Kilius/Hans-Jürgen Bäumler waren auch deshalb so umjubelt, weil sie sich 1964 bei den Spielen in Innsbruck einen heroischen Kampf mit dem sowjetischen Paar Ludmilla Belousowa und Oleg Protopopow lieferten – hier das Traumpaar des ausgehenden Wirtschaftswunders, dort die (nie lächelnden) Repräsentanten des verknöcherten Breschnewregimes. 1972 und die Jahre darauf, als die sozialliberale Ostpolitik als Chiffre für gesellschaftliche Liberalität genommen wurde, verkörperten die Nachfolger jenes sowjetischen Paares, die quirligen Irina Rodnina und Alexej Ulanow (und später Alexander Saizew), auch so etwas wie Entspannung auf dem Eis – als einzige Paarläuferin gewann sie drei Goldmedaillen zwischen 1972 und 1980.

Die Krönung jener Ära vor der Wende 1989 war freilich eine Läuferin aus der DDR. Ihre Vorgängerinnen, außer Gaby Seyfert 1972 (Silbermedaille) allesamt Vertreterinnen einer Optik, die auf nichts Anmutiges wert zu legen schien, hatten stets den, sozusagen, Kaderauftrag erhalten, es zum Gold zu schaffen. Aber erst ihr, „dem schönsten Gesicht des Sozialismus“ (so das amerikanische Magazin Time), war dies gegeben: Katarina Witt aus Karl-Marx-Stadt (später: Chemnitz) hatte diesen fruchtigen Sexappeal, der einfach zu dieser Sportart gehört wie eine gewisse Bulligkeit zum Schwergewichtsboxen. Das technische Repertoire der Witt war nie extraordinär; sie konnte nie mehr als ihre Konkurrenz – aber im Gegensatz zu allen anderen stand sie ihre Sprünge auch, wenn es darauf ankam. Und: Keine andere konnte so die Preisrichter anstrahlen – ohne dass Preisrichterinnen sich eifersüchtig herausgefordert sahen, sie aus Missgunst herabzuwerten.

Schließlich sagte Katarina Witt, tüchtige Parteigängerin der DDR bis zu ihrem Ende, 1988, nach dem zweiten Olympiasieg in Calgary, dass ohne ihren Staat, ihr Land eine Eiskunstlaufkarriere nicht möglich gewesen wäre – ein Arbeiterkind wie sie hätte es im Westen bestenfalls zur Kassiererin in einer Eishalle gebracht. Gegen sie (und ihren bis heute andauernden Ruhm) verblassten alle Erbinnen ihres Erfolgs schon im Vorwege – hießen sie im (neuen) Deutschland nun Evelin Grossmann oder Tanja Szewczenko.

Dabei bietet die Sportart selbst alles, um das Publikum zu entzücken: eine Technik, deren Güte vom Laien nicht auf Anhieb bewertet werden kann; ein Wertungssystem, das ebenfalls sich unmittelbarem Verständnis verschließt; und ein Preisgericht, dessen Zusammensetzung früher strikt nach Ost-West-Gesichtspunkten balanciert worden war – und heute mehr oder wenig grob nach geografischen Erwägungen rekrutiert wird. Raunende Diskussionen wie einst – war das nun Schiebung, ihr die 5,9 zu verweigern?, war es gerechtfertigt, sie trotz geringerer technischer Qualität mit der Platzziffer eins zu versehen? – finden nicht mehr statt.

Wem geht es schon ans Herz, dass nun eine wie Debbie Thomas, die erste schwarzhäutige Amerikanerin, die Chancen auf die Goldmedaille hatte, 1988 in Calgary an Kati Witt scheitert, indem sie in der Kür nie zuvor gesehene Schwächen bei den Sprüngen offenbart? Wem geht noch das Herz auf wie 1984 in Sarajevo, als die Briten Jane Torvill und Christopher Dean mit dem ödesten Gassenhauer der Klassik, Maurice Ravels Komposition „Bolero“, dem Eistanzen eine ganz eigene Dynamik (und sportliche Klasse) abgewannen?

Eine Sportart, die Fantasien geweckt hat und die dazu gehörenden Gefühle von Leidenschaft und Verdruss. Heutzutage dominieren in Europa unter den besten Läuferinnen fast nur solche aus der früheren Sowjetunion das Geschehen, laufen sie nun unter russischer oder (nach Einbürgerung) österreichischer Flagge: Sie wirken wie zum Verwechseln ähnlich.

Andrejs Vlascenko läuft ebenso wie seine früheren sowjetischen Kollegen, nur eben nicht so gut. Man sollte ihm einen deutschen Reisepass noch ausstellen, damit er in Salt Lake City mitmachen kann. Dass er niemals eine Nation dazu bewegt, sich seine Kür live während der späten Nachtstunden anzuschauen, ist gewiss. Aber das hat er mit allen Kollegen seines Sports gemein: Dass sie nicht zu Legenden taugen.

JAN FEDDERSEN, 44, ist taz.mag-Redakteur