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Das Trauma vom Schlusslicht

Der Populist Schill versucht, Protestwähler mit dem Mythos zu gewinnen, wonach Sachsen-Anhalt vor 70 Jahren eine blühende Landschaft gewesen sei

aus Halle MICHAEL BARTSCH

Mit einem Anflug von Überheblichkeit blickt man im benachbarten Sachsen auf die „Bindestrich-Länder“ im Allgemeinen und auf Sachsen-Anhalt im Besonderen. Sie hätten es halt schwer mit ihrer Identitätsfindung, während sich die über 900-jährige sächsische Nation von selbst verstehe. Wäre es 1990 allerdings nach einigen großsächsischen Nostalgikern gegangen, hätte man sich bei der Wiedergründung der ostdeutschen Länder gemeinsam mit Thüringen in einem kursächsischen Remake wiedergefunden. Schließlich hatte man Anhalt als Provinz Sachsen nach dem Wiener Kongress 1815 an die Preußen verloren. Fusionsdiskussionen, die bis heute nicht verstummen.

So aber wurde wiederhergestellt, was die sowjetische Militäradministration 1945 verfügt und die DDR 1952 wieder aufgelöst hatte: das Land Sachsen-Anhalt. Landsmannschaftlich schwer zurechenbar, was bis heute den Verweis auf eine „zerrissene Geschichte“ auslöst. Zwischen Halle und der Magdeburger Börde kennt man natürlich Heimatgefühle und lokale Bindungen. Aber ob man sich außer Landes als Sachsen-Anhalter ausweisen würde, bezweifeln viele. Der tröstende Verweis auf eine Stammesidentität als ideeller Ersatz für ausbleibenden materiellen Wohlstand, wie ihn Kurt Biedenkopf in Sachsen wiederholte, konnte hier nicht funktionieren.

„Identität kann man nicht verordnen und Tradition nicht herbeireden“, sagt etwa der stellvertretende Regierungssprecher Theo Struhkamp. Es ginge in erster Linie darum, das Bild des bundesweiten Rote-Laterne-Landes loszuwerden. Die Lage sei besser als die Stimmung. Auch der Populist Ronald Schill nahm auf dem ersten Landesparteitag seiner Partei am Samstag eine Anleihe beim Sachsen-Mythos von nebenan. Sachsen-Anhalt sei schließlich das „Kernland der deutschen Kultur“ und vor sechzig, siebzig Jahren führend in Sachen Prosperität in Deutschland gewesen (s. unten).

Die enorme Resonanz auf die kürzlich beendete Ottonen-Ausstellung in Magdeburg scheint das zu belegen. Hier wurden immerhin die ersten deutschen Könige gekrönt. Die Fachwerkstadt Quedlinburg, die Lutherstätten in Eisleben und Quedlinburg, das Wörlitzer Gartenreich und das Bauhaus in Dessau fanden Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste der Unesco. Die künftige Bundeskulturstiftung wird in Halle ihren Sitz nehmen. Im Raum zwischen Bitterfeld und Schkopau standen die Erdöl- und Chemiegiganten Leuna und Buna, und die Geisterstadt „Ferropolis“ kündet von den Förderriesen des Braunkohletagebaus.

Mehr noch als die problematische Landesidentität lastet indes das Trauma, zumindest bei den meisten Wirtschaftsdaten Schlusslicht in Deutschland zu sein. So glauben es viele Bürger, so erklärt sich ein hohes Protestwählerpotenzial. Und dieses Negativimage wird von den Populisten der Schill-Partei eifrig geschürt. Als Indizien gelten die monatlichen Arbeitslosenzahlen in der Größenordnung von 19 Prozent, die geringste Selbstständigenquote in Deutschland und die seit 1990 um fast 300.000 auf 2,6 Millionen geschrumpfte Einwohnerzahl. Wenn dann noch Standortwettbewerbe wie um die imageträchtige, wenn auch kaum arbeitsplatzintensive Ansiedlung eines BMW-Werkes gegen Leipzig verloren werden, ist das Lamento allgemein und der Protest vor allem aus Unternehmerkreisen gegen die „Wirtschaftsblockaden“ der rot-roten Landesregierung laut. Die Rettung des Waggonbaus Ammendorf, wichtigster Arbeitgeber für Halle, mit Hilfe Kanzler Schröders in der Vorwoche erhält so eine vielfache Signalwirkung.

Doch das Stimmungsbild erinnert auch an die vielzitierte selbsterfüllende und selbstverstärkende Prophezeiung. Das vom ehemaligen „Wirtschaftsweisen“ Rüdiger Pohl geleitete Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat vor einem Jahr Empfehlungen für das Wirtschaftsministerium in Magdeburg erarbeitet. Danach fällt der Datenvergleich mit anderen ostdeutschen Ländern nicht so negativ aus wie angenommen. Die Unterschiede beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner sind minimal, die Bruttowertschöpfung je Einwohner die zweithöchste im Osten. Bei Investitionen in den Bergbau und das verarbeitende Gewerbe liegt man in Sachsen-Anhalt sogar an der Spitze. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Hochschulen übertreffen die Sachsens und liegen mit rund 1.300 Euro deutlich über dem Bundesdurchschitt. Nur bei der Anzahl der Gewerbeanmeldungen hinkt das Land hinterher.

Die Wirtschaftswissenschaftler empfehlen daher, mit eben diesen Pfunden hoher Investitionen und einer soliden Bildungs- und Forschungslandschaft stärker zu wuchern. Nicht gerade mit der Einführung des 13. Abiturjahres, aber beispielsweise mit der festen, verlängerten Regelöffnungszeit der Grundschulen ging das Land mutige Wege in Richtung jüngster Pisa-Erkenntnisse. Politisch hatte Sachsen-Anhalt vor allem in den Jahren bis 1994 heftige Turbulenzen zu überstehen. Der aus der Block-CDU der DDR stammende erste Ministerpräsident Gerd Gies erwies sich nach weniger als einem Jahr als völlig unfähig. Sein aus Niedersachsen importierter Nachfolger Werner Münch stolperte 1993 über eine Gehaltsaffäre. Bis zur Landtagswahl 1994 übernahm der bodenständige, aber farblose Christoph Bergner das Amt. Diese Wahl ermöglichte dem als Vizepräsident der letzten DDR-Volkskammer geschulten Reinhard Höppner und seiner SPD die Führung im Land, zunächst in einer Koalition mit den Bündnisgrünen und nach deren Ausscheiden 1998 allein. Auf Mehrheiten im Landtag konnte er sich allerdings nicht stützen. Erst eine Tolerierung durch die PDS im bundesweit einmaligen „Magdeburger Modell“ ermöglichte das Regieren. Ein Vierteljahr vor der Landtagswahl am 21. April sehen Umfragen einen deutlichen Trend zur CDU, Verbesserungen bei der PDS und starke Verluste für die SPD, die Höppner wieder als Spitzenkandidaten nominiert hat.

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