: In Lagos bleibt die Stimmung explosiv
Nach der verheerenden Explosion mit 1.000 Toten wachsen in Nigeria Unruhen und Unmut – auch im Militär
BERLIN taz ■ Nigerias Metropole Lagos kommt seit der Explosionskatastrophe vom 27. Januar nicht zur Ruhe. Noch immer ist unklar, warum am Abend dieses Tages das gigantische Waffendepot der Kaserne von Ikeja in die Luft flog. In einem Umkreis von sieben Kilometern entstand dabei erheblicher Sachschaden; bei der panischen Flucht hunderttausender aus den angrenzenden Wohnvierteln ertranken über tausend Menschen, die meisten davon Kinder, in einem Kanal voller giftiger Abwässer und Wasserhyazinthen.
Das Militär führt eine vertrauliche Untersuchung des Vorfalls durch und sorgt damit für Misstrauen. Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo heizte die Gerüchteküche am Sonntag an, als er Sabotage als Ursache der Katastrophe nicht ausschließen wollte. Schon bei der Massenflucht am Unglückstag kursierten Gerüchte, es habe einen Militärputsch gegeben. Einige behaupteten sogar, die USA flögen Luftangriffe, weil Nigerias Generäle in der fraglichen Kaserne Ussama Bin Laden versteckt hielten.
Dass es „nur“ ein Unfall gewesen sein soll, beruhigt die Leute keineswegs. Der bekannte Menschenrechtsanwalt Femi Falana hat vor Nigerias Oberstem Gericht Klage eingereicht, damit per einstweilige Verfügung alle Waffenlager Nigerias aus bewohnten Gebieten heraus verlegt werden. Empört sind nicht zuletzt die Bewohner der Kasernen, also die einfachen Soldaten, die im Wortsinne in einer explosiven Lage leben. Dafür geben sie nicht nur ihren Vorgesetzten die Schuld, also den schwerreichen alten Generälen Nigerias, von denen einer nach dem Unglück den Verlust von „neun Glastüren und mehreren Kronleuchtern“ bekannt gab. Auch die Regierung ist Ziel ihres Zorns. Denn Nigeria ist seit 1999 keine Militärdiktatur mehr, sondern hat mit Obasanjo einen zivilen Präsidenten, der überdies General a. D. ist. Aus seiner Glanzzeit in den 60er- und 70er-Jahren stammen die meisten militärischen Einrichtungen, die heute marode sind.
So rumort es nun im Militär kräftiger als je seit dem Ende der Militärherrschaft. Sowohl Obasanjo wie auch Vizepräsident Atiku Abubuakar wurden vergangene Woche bei Besuchen in Ikeja von empörten Anwohnern und Soldaten beschimpft. Das nigerianische Rote Kreuz musste die Versorgung obdachloser Explosionsopfer einstellen, nachdem Soldaten die Hilfsgüter für sich beanspruchten. Laut einem Zeitungsbericht hat eine Gruppe von Soldaten der Regierung ein Ultimatum bis zum 10. März gestellt, ihre Lebensumstände zu verbessern. Parallel dazu traten am Wochenende Nigerias Polizisten in den Streik. Die Regierung machte eine Milliarde Naira (100 Millionen Euro) für höhere Gehälter locker – fünfmal mehr als für den Hilfsfonds für die Explosionsopfer.
Die Opfer der Katastrophe fühlen sich unterversorgt und greifen zur Selbsthilfe. Gerüchte, muslimische Bewohner des zentralen Stadtviertels Idi Araba hätten sich Eigentum von Vertriebenen angeeignet, provozierten am Samstag ethnische Gewalt. Milizionäre des „Oodua People’s Congress“ (OPC), eine bewaffnete Organisation des um Lagos beheimateten Yoruba-Volkes, griffen die Muslime an, hauptsächlich Zuwanderer aus Nordnigeria. Die Gewalt dauerte gestern an; sie soll 55 Tote gefordert und tausende in die Flucht getrieben haben. Erst gestern rückten Armee und Polizei ins Kampfgebiet ein. Niemand in Lagos gibt sich derzeit besondere Mühe, das aufgeputschte Klima zu besänftigen. Solche Situationen nehmen in Nigeria erfahrungsgemäß ein böses Ende.
DOMINIC JOHNSON
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