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Ratlosigkeit und hohle Rhetorik

Behutsam passen Lateinamerikas marxistische Intellektuelle ihren Diskurs den neuen Realitäten an. Ihre Selbstkritik bleibt jedoch sehr allgemein und tut niemandem weh

PORTO ALEGRE taz ■ Die lateinamerikanische Traditionslinke hatte am Sonntag zur „Reflexion über die sozialen Bewegungen“ eingeladen. In der luftigen Lagerhalle 9 am Hafen von Porto Alegre fanden sich 400 Menschen ein, um den marxistischen Intellektuellen Immanuel Wallerstein, Martha Harnecker und Pablo González Casanova zuzuhören.

Der US-Historiker Wallerstein, bekannt für seine Analysen des kapitalistischen Weltsystems, skizzierte die zwei Traditionslinien, in denen er die globalisierungskritische Bewegung verortet. Die Anarchisten, die kulturellen Nationalisten in der Dritten Welt und die neue Linke der 68er-Bewegung hätten sich allesamt gegen die staatsfixierten Sozialdemokraten und Kommunisten und die politischen Nationalisten der Befreiungsbewegungen gewendet, seien aber stets unterlegen.

Gescheitert seien aber auch jene Linke, die die Staatsmacht erobern konnten. Die Globalisierungskritiker hätten daraus die richtige Konsequenz gezogen: Sie lehnen zentralistische Strukturen ab und haben Toleranz untereinander zum Programm gemacht.

Am konsequentesten hätten die Zapatisten die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen, sagte die Mexikanerin Ana Esther Ceceña. Der Alttrotzkist und Attac-Stratege Christophe Aguiton von Attac-Frankreich warnte davor, durch einseitige Konsensbildung Teile der „Massenbewegung“ auszuschließen.

Wenn sich dieses Harmoniebedürfnis jedoch auch auf die theoretische Reflexion überträgt, wird es kontraproduktiv, das machten die geladenen Akademiker unfreiwiliig deutlich. Durchbrochen habe das Wallerstein-Schema nur Kuba, behauptete etwa der mexikanische Soziologe Pablo González Casanova unwidersprochen. Die Rebellen von der Sierra Maestra seien Vorläufer der 68er-Bewegung. Über die Gegenwart schwieg er sich aus. „Das große Erbe der Menschheit ist Kuba“, so sein Fazit. Auch Martha Harnecker aus Chile, die wohl produktivste Chronistin der lateinamerikanischen Linken seit den Sechzigerjahren, blieb sich und ihrer zweidimensionalen Weltsicht treu und feierte kritiklos alle Kräfte ab, die sich gegen die US-Hegemonie stellten und stellen, von Che Guevara über Brasiliens Landlosenbewegung MST bis hin zu Venezuelas Präsident Hugo Chávez.

Wer sich von den ReferentInnen kritische Analysen des „Volks von Porto Alegre“ versprochen hatte, wurde enttäuscht. Es gebe NGOs, die das „Spiel der Rechten mitmachten“, raunte Harnecker und diagnostizierte „subjektive Probleme“: Die Bewegung „segelt ohne Kompass dahin“. Viele Linksparteien hätten „organisatorische Probleme“.

Kein Wunder also, dass sich die meisten jungen Brasilianer aus dem benachbarten Jugendcamp von dieser Art des schematischen Diskurses angeödet fühlten, der durchaus auch typisch für die Debatten der brasilianischen Linken ist. „Wir sind irgendwie links und anarchistisch“, sagte der 25-jährige André Marques aus dem Hinterland von Bahia, der die „geile Stimmung“ des Weltsozialforums genießt. Die meisten Reden der linken Politiker seien aber „tautologisch“ und von einer hohlen Rhetorik. Und das Geschreie und Fahnengeschwenke seiner parteipolitisch organisierten Altersgenossen geht Marques „einfach nur auf den Wecker“.

GERHARD DILGER

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