: Sehnsüchte und Ängste
■ Caroline Ebner spielt „Anne Frank – Das Portrait einer Dichterin als junges Mädchen“ an den Kammerspielen
Sie war alles andere als ein gewöhnliches kleines Mädchen – Anne Frank, die wohl berühmteste Zeugin des Holocaust. In ihrem Tagebuch gab sie dem Schrecken ein Gesicht. Heute wird sie weltweit von Jugendlichen verehrt, als mit nur 17 Jahren im Lager Bergen-Belsen ermordete Legende. Und als pubertierende Leidensgenossin, die ihrem Tagebuch die Wirrnisse des Heranwachsens anvertraute.
Caroline Ebner sieht Anne Frank zum Verwechseln ähnlich. Die 30-jährige Schauspielerin trägt das gleiche neckische Lächeln im Gesicht und beherrscht den verschmitzten Augenaufschlag. Bei einer so präsenten Darstellerin brauchte Kammerspiele-Intendant Ulrich Waller sich um die Regie für seinen Monolog Anne Frank. Das Portrait einer Dichterin als junges Mädchen kaum zu sorgen. Nach der letztjährigen Premiere im koproduzierenden Schauspiel Hannover wurde seine einfühlsame Textcollage nun auch in den Kammerspielen gefeiert.
In einem viel zu großen Nadelstreifenanzug betritt Caroline Ebner die Bühne. Ein karges Zimmer, eine Glühbirne hängt von der De-cke, die beiden Fenster sind mit Rollos verhängt. Sie erzählt, dass sie 1942, im Jahr des Untertauchens ihrer Familie im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263, nicht mehr sorglos war. Sie nahm Abschied von einem Leben voller Süßigkeiten, Freunde und familiärem Wohlstand.
Anne ist ein neugieriges Mädchen. Emotional verwirrt durch den jungen Peter van Daan, dessen Familie das Versteck teilt. Und sie sprüht voller Pläne von großartigen Reisen nach Paris und einem Kunstgeschichtsstudium. Doch vor allem will sie Rad fahren, tanzen, singen und endlich wieder lachen, bis sie Bauchweh hat. Sogar Filmstar will sie werden. Dazu löst Ebner die streng geflochtenen Zöpfe, entledigt sich des Hosenanzugs und räkelt sich in einem geblümten Kleid auf dem Stuhl.
In die jungmädchenhafte Verspieltheit mischen sich minutenlange traurige Blicke, wenn sie bekennt, sich in dem Versteck wie in einer „sehr eigenartigen Pension“ zu fühlen. Auch wenn die Enge und das eintönige Essen nerven und der zunächst angeschmachtete Peter van Daan zu anhänglich wird, bleibt es für sie doch ein romantisches Abenteuer, bei dem es wichtig ist, „im gefährlichen Augenblick zu lachen“. In seinem Portrait dieser kleinen Dichterin liefert Waller keine platte Nacherzählung des Tagebuchs. In unterschiedlichen Prosaelementen formt er das glaubwürdige Bild eines jungen Mädchens voller Sehnsüchte und Ängste. Und Waller beschließt den Abend hoffnungsvoll. Im Vertrauen auf Gott hat Anne Frank eines Tages keine Angst mehr gehabt.
Annette Stiekele
nur noch heute, 20 Uhr, Kammerspiele
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