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barbara dribbusch über GerüchteBodennahe Lösungen

Im Neurologen Guido P. steckt eigentlich ein kleiner Robin Hood. Warum nur will er Ede Stoiber wählen?

Ärztefeten sind immer eine kommunikative Herausforderung. Jedenfalls dann, wenn man fest entschlossen ist, sich nicht über sinkende Punktwerte, die Verarmung der Fachärzte oder die Schließung des Westberliner Uniklinikums zu ereifern. Ich war fest entschlossen, diesen Trampelpfad der menschlichen Annäherung zu meiden, als ich mich an jenem Freitagabend auf den Weg zur Geburtstagsfeier einer befreundeten Nervenärztin machte.

Nie hätte ich jedoch geahnt, dass ich wenige Stunden später neben dem bekannten Neurologen Guido P. angetrunken auf dem Teppichboden knien sollte, vor uns ein DIN-A3-Blatt aus dem Malblock der Haustochter, auf dem wir mit giftgrünen Stiften eine Gewinner-und-Verlierer-Rechnung des deutschen Sozialstaats aufzumachen versuchten.

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Mein Mann und ich hatten uns für den Abend ärztefetentauglich angezogen, den aufrüttelnden Roman „Der Koryphäenkiller“ trug ich als Geburtstagsgeschenk bei mir. Wie immer, wenn Alkoholkonsum zu erwarten war, kutschierte mich mein Mann auf seinem Fahrradgepäckträger zum Fest.

Doch es kam, wie es kommen musste: Irgendwann wurde uns Guido P., Nervenarzt im Berliner Arbeiterbezirk Neukölln, vorgestellt. Der tazlerin bleibt ja kein soziales Elend fremd, denn kaum erfährt das Gegenüber, dass es sich bei dem Partygast um eine Journalistin handelt, noch dazu eine, die zuständig für Soziales ist bei einer Zeitung, die sich den Schutz der Schwachen auf die Fahne geschrieben hat, gibt es kein Halten mehr: „Und“, fragt er lauernd, das Du sogleich anbietend, „was hältst du denn von der Schließung des Klinikums?“ Nicht so ganz mein Thema, sage ich, aber vielleicht gebe es ja wirklich keine Alternative. Klar gebe es die, sagt Guido P., nicht dass er ein Rechter sei, aber der Stoiber, das müsse man sagen, „nie würde der eine solche Forschungsstätte schließen“. Der Stoiber hätte in Berlin halt mehr bei den Behörden eingespart, in den Verwaltungen, „die sind doch total überbesetzt, vergleich da mal Berlin mit München“.

Aus P.s Mundart schließe ich, dass es sich um einen gebürtigen Bayern handelt. Wahrscheinlich bewundert auch er heimlich den berühmten bayerischen Hobbypiloten Franz Josef Strauß, der, wenn er die Orientierung verloren hatte, einfach so niedrig flog, bis er die Hinweisschilder auf der Autobahn erkennen konnte. Bodennahe, pragmatische Lösungen finden! Das können nur Bayern.

Früher habe er ja die Grünen gewählt, erzählt Guido. Doch seitdem die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer den Fachärzten das Geld kürzte, „seitdem sind die Grünen bei mir unten durch“. Ich kenne den Mechanismus. Meine Bekannte Gundel Z., Hundebesitzerin, war in den frühen Neunzigern endgültig von den Grünen abgefallen, weil eine grüne Berliner Umweltsenatorin ein Hundeauslaufgebiet dichtmachen wollte und sich allzu negativ über Hundehaufen geäußert hatte. So funktioniert Politik.

Aber es gebe doch immer noch Gewinner und Verlierer im Sozialstaat, sage ich, schon leicht angesäuselt, und schlage vor, uns von der Haustochter Valerie S. einen Malblock zu borgen und darauf eine objektive G&V-Liste zu erstellen. Auf den unteren Blattrand setze ich die Arbeitslosen, gewissermaßen als Oberverlierer. „Zu platt“, sagt Guido P., „schließlich müssen die gar nicht arbeiten, kriegen Stütze, und außerdem: Wo bleibt der Faktor Eigenverantwortung?“

Dann vielleicht die Kranken ganz unten hin? Guido P.s Miene wird weich. Ja, die Kranken. Ein Drittel seiner Patienten seien Mobbingopfer, der typische Fall sei „die Kassiererin von Bilka, 50 Jahre alt, kaputt, die kann nicht mehr, und jetzt wird sie schikaniert, weil die Geschäftsführung sie loswerden will“.

Selbstverständlich schreibe er die Frau krank, „auch 72 Wochen lang“. So lange gibt es nämlich Krankengeld, und das Krankengeld ist höher als das Arbeitslosengeld. Guido P. grinst verschwörerisch. Auch in ihm steckt ein Robin Hood. „Die Frau hat doch keine Chance mehr: für den Arbeitsmarkt zu verschlissen und für die Rente zu jung.“ Nach dreißig Jahren Bilka-Kasse ist dieser Stoiber wählende Arzt die letzte Rettung für diese Frau.

„Vielleicht ist es wirklich immer schwerer geworden, Gut und Weniger- gut zu unterscheiden. Vielleicht muss man die Anarchie des Sozialstaats einfach akzeptieren“, sinniere ich Stunden später, als ich mich auf dem Fahrradgepäckträger durch die eiskalte Nacht heimkutschieren lasse. Auf dem DIN-A3-Block der Haustochter hatten sich am Ende, von den Partygästen hingekritzelt, ganz oben als Gewinner die Konzerne befunden, darauf kann man sich immer einigen („denk mal an Porsche“). Verdächtig weit oben endeten auch „die Beamten“ („die Lehrer nehm ich aber aus“), schon näher an den Verlierern landeten „die Fachärzte“, weiter unten fand sich dann „der AOK-Patient“. „Vielleicht ist der Sozialstaat nur eine Ansammlung von Geschichten, von Stimmen“, meint der Liebste. Und jeder pflegt in dieser Sammlung sein ganz persönliches Ordnungsprinzip.

Fragen zu Gerüchten?kolumne@taz.de

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