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Schreibtischtäter vor Gericht

Milošević ist formell sein eigener Verteidiger und kann dadurch die Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör nehmen

aus Den Haag THOMAS VERFUSS

Erstmals seit dem Prozess gegen Admiral Dönitz vor dem alliierten Militartribunal in Nürnberg vor über 50 Jahren wird einem ehemaligen Staatsoberhaupt wegen Kriegsverbrechen der Prozess gemacht: Morgen beginnt vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag das Verfahren gegen Slobodan Milošević.

War Nürnberg noch ein Tribunal der Sieger, im Haag wird im Namen der gesamten Menschheit Recht gesprochen, schließlich sind fast alle Staaten Mitglied der UNO. Und Milošević ist angeklagt wegen Verbrechen, die per definitionem so schlimm sind, dass sie die ganze Menschheit angehen. Zunächst wird wegen Verbrechen im Kosovo verhandelt, später sollen auch die inzwischen ausgearbeiteten Anklagen wegen Verbrechen in Kroatien und wegen Völkermords in Bosnien präsentiert werden.

Bewaffnete Männer werden Milošević am Dienstagmorgen in den Haager Hightech-Gerichtssaal führen. Der wird von einem gigantischen Fenster in zwei Teile getrennt. Auf der einen Seite sitzen Presse, Diplomaten und andere Zuhörer. Wie in einem Aquarium sehen sie auf der anderen Seite des kugelsicheren Glases den Angeklagten, Richter, Ankläger, Stenografen und andere Verfahrensbeteiligte sitzen.

Alles, was im Gerichtssaal zu vernehmen ist, wird simultan übersetzt: ins Französische, Englische, Serbokroatische und Albanische. Die englischen und die französischen Übersetzungen werden mitstenografiert und erscheinen auf Computerbildschirmen, nur wenige Sekunden nachdem die Worte ausgesprochen sind. Milošević und alle anderen Anwesenden müssen aufstehen, wenn die drei UNO-Richter den Saal betreten: Patrick Robinson aus Jamaica, der Südkoreaner O-Gon Kwon und Richard May, der Vorsitzende Richter. Mit dem Briten ist Milošević schon so manches Mal an einander geraten. Seit die serbische Regierung den Expräsidenten im Juni 2001 nach Den Haag auslieferte, gab es schon einige Sitzungen, um den Prozess vorzubereiten. Nach der stark angelsächsisch geprägten, sehr ritualisierten Prozessordnung des Tribunals darf der Angeklagte kaum etwas sagen. Milo- šević dagegen wollte immer wieder politische Reden halten. So wetterte er wiederholt gegen das „illegale Tribunal“ und gegen die „Nato-Aggression“, die wahren Verbrecher seien die Nato-Regierungschefs Clinton und Blair. Sie hätten Jugoslawien 1999 bombardieren lassen, um eine internationale Verwaltung im Kosovo zu erzwingen, wo es bei Operationen der serbischen Polizei und der jugoslawischen Armee viele Tote gegeben hatte unter der albanischen Zivilbevölkerung.

Strafrechtlich relevant

Im letzten halben Jahr wurde Milošević oft unterbrochen. Mit Bemerkungen wie „This is not the time for speeches“, schnitt der Vorsitzende May dem Angeklagten das Wort ab. Am Anfang des Prozesses kommt nun aber die große Stunde für den gewieften Politiker Milošević: Nach dem Eröffungsplädoyer von Chefanklägerin Carla Del Ponte und ihren Mitarbeitern, das einen Tag in Anspruch nehmen dürfte, ist am Mittwoch Milošević am Zug. Seine Rechtsberater haben schon angekündigt, dass er wahrscheinlich einen ganzen Tag sprechen wird, um seine Sicht der Dinge zu schildern.

Die Frage ist: Wo hört die Politik auf, die bekanntermaßen oft schmutzig ist, ohne dass Politiker dafür eingesperrt werden, und wo beginnt das strafrechtlich Relevante, wofür man einen Politiker vor Gericht stellen kann? Unstrittig ist, dass der Exapparatschik Milošević nach dem Niedergang des Kommunismus entdeckte, dass man in Serbien auch mit nationalistischen Tönen populär werden kann. Unstrittig ist auch, dass Milošević die Führer der kroatischen und der bosnischen Serben unterstützt hat, die ihrerseits anderen Bevölkerungsgruppen viel Leid zufügten: zigtausende Tote, Folter, Vergewaltigung, Vertreibung.

Milošević saß aber während des Krieges die meiste Zeit am Schreibtisch. Natürlich unterstützte er eine Zeit lang die Führer der serbischen Minderheiten in Kroatien und Bosnien: militärisch, finanziell, logistisch und propagandistisch. Aber inwiefern ist er dafür strafrechtlich verantwortlich zu machen? Laut Anklage ging es bei dem „Großserbischen Projekt“ um ein „gemeinschaftliches kriminelles Unterfangen“ aller Beteiligter. Milošević muss gewusst haben, dass bei den „etnischen Säuberungen“ in Bosnien und Kroatien Verbrechen begangen wurden, und ist dafür mitverantworlich, so lautet die Anklage.

Im Falle Kosovos kommt hinzu, dass Milošević auf dem Höhepunkt des Konflikts in der serbischen Unruheprovinz als Staatsoberhaupt Restjugoslawiens auch Oberkommandierender der Streitkräfte war. Nach dem Prinzip der „command responsibility“, wozu das Tribunal schon eine Rechtsprechung entwickelt hat, ist ein Vorgesetzter in einer militärischen Struktur mitverantwortlich für Verbrechen von Untergebenen. Die muss er versuchen zu verhindern und, wenn sie denn passiert sind, bestrafen.

Verhör durch Peiniger

Will Chefanklägerin Del Ponte Milošević für Gräueltaten der jugoslawischen Armee im Kosovo verurteilt sehen, muss sie entweder beweisen, dass Milošević den Befehl dazu gegeben hat, oder zumindest, dass er davon wusste oder davon hätte wissen müssen. Wie Carla Del Ponte das beweisen will, ist Gegenstand der Spekulation. Deutlich ist aber, dass westliche Geheimdienste dem Tribunal schon seit Jahren viel Material liefern. Damit muss Del Ponte während des Prozesses rausrücken, der nach ihrer Einschätzung zwei Jahre dauern könnte.

Neben Protokollen etwa von abgehörten Telefongesprächen oder Funksprüchen werden beim Tribunal auch Zeugenaussagen von Überlebenden als Beweismaterial eingebracht. So werden in der ersten Phase des Milošević-Prozesses, wobei es um Kosovo gehen wird, Überlebende der Gewalt von 1998/99 gehört werden. In früheren Prozessen im Haag waren das oft Leute, die gesehen hatten, wie nächste Angehörige ermordet wurden, oder Leute, die sich nach Massenexekutionen stundenlang still gehalten hatten, bis die Schlächter abgezogen waren.

Diese Zeugenaussagen werden oft unter Tränen gemacht. Die Zeugen der Anklage müssen sich nach ihrer Aussage dem Kreuzverhör der Verteidigung unterziehen. Oft versuchen die Anwälte der Angeklagten dabei, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu untergraben – für die Opfer eine schmerzhafte Sache.

Im Falle des Milošević-Prozesses kommt erschwerend hinzu, dass Milošević sich keinen Anwalt genommen hat, weil er das Tribunal als illegal betrachtet und das UN-Gericht nicht dadurch implizit anerkennen will, dass er einen Verteidiger einschaltet. Das bedeutet, dass Milošević formell sein eigener Verteidiger ist und Zeugen der Anklage selbst ins Kreuzverhör nehmen darf. Für manchen Zeugen ein Albtraum: nach Jahren der Unterdrückung im Kosovo nach Den Haag zu kommen, um in ungewohnter Umgebung eine Zeugenaussage zu machen, und dann vom früheren Peiniger mit bohrenden Fragen in die Mangel genommen zu werden.

Richter May wird ein Gleichgewicht finden müssen: Lässt er Milošević freies Spiel, nimmt er neues Leid der Albaner in Kauf. Verbietet er Milošević den Mund, setzt er sich dem Vorwurf aus, dass er eine faire Verteidigung unmöglich macht. Und genau das wollen die meisten Beteiligten sich nicht sagen lassen.

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