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Das sanfte Entsetzen

Der Schwitzkasten wird wahrnehmbar: Die Schauspieler Katharina Thalbach und Fabian Krüger lasen im Berliner Kammergericht aus Franz Kafkas „Prozess“

Am Sonntag zum Gericht zu gehen, da fühlt man sich schon ein bisschen wie Josef K., die Hauptperson von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Denn der sucht an einem Sonntag ein Tribunal auf, nachdem er unter völlig unklaren und unaufklärbaren Umständen verhaftet wurde.

Am vergangenen Sonntag machten sich etwa 280 Menschen zum Berliner Kammergericht am Kleistpark auf, um Kafkas Roman zu hören, gelesen von der Regisseurin und Schauspielerin Katharina Thalbach und Fabian Krüger vom Maxim Gorki Theater. Die Idee, Kafkas Werke an besonderen Orten von bekannten Schauspielern lesen zu lassen, stammt von der Kafka-Forschungsstelle in Wuppertal. Mit dem Reiseprojekt „Kafka: erLesen“ will man neues Interesse für die Werke des Prager Schriftstellers wecken: bislang waren unter anderem Mario Adorf mit der „Strafkolonie“ in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim zu hören und Hanna Schygylla im Tierpark Hagenbeck in Hamburg. Nun also Berlin mit einem ganz besonderem Ort: Im Kammergericht wütete Roland Freislers Nazi-Volksgerichtshof.

Der Zufall sorgte für eine kafkaeske Szene: Statt der erwarteten 30 Leute, die sich im Vorverkauf eine Karte besorgt hatten, kamen unangemeldet 280. Ein neuer Saal wurde fällig, ein Saal, in dem Volksgerichtshofpräsident Freisler viele politische Angeklagte, darunter auch die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, zum Tode verurteilt hatte. Aus Respekt vor den Opfern bleibt dieser Saal ganz besonderen Anlässen wie dieser Lesung vorbehalten.

Katharina Thalbach – in rotem Pullover auf dem Sessel des Vorsitzenden platziert – beginnt die Lesung mit dem Anfang des Romans: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Thalbach gibt dem bedrohlichen ersten Kapitel, in dem Josef K. gegen seine Hilflosigkeit rebelliert, einen eher sanften Akzent. Das Diabolische des Textes am diabolischen historischen Ort wird dadurch etwas runder geschliffen. Dennoch gelingt es der Thalbach, den Schwitzkasten, in den die Wärter Josef K. mit Worten packen, geradezu körperlich wahrnehmbar zu machen. So bleibt die ganze Zeit über die Frage im Kopf, die anfangs der stellvertretende Gerichtsvorsitzende in den überfüllten Saal geworfen hatte: Josef K. wird zum Objekt einer Justiz, die er nicht versteht und nicht verstehen kann. Lässt sich das vergleichen mit den Opfern des Volksgerichtshofs?

Fabian Krüger lässt das offene Entsetzen dann auch eher weiter schwinden, weil er die Begegnung zwischen Josef K. und dem Gerichtsgeistlichen so milde vorträgt wie Hermann van Veen die Begegnung zwischen einem Kirchgänger und Gott. Das ist gar nicht schlecht, denn das Gespräch, das Josef K. kurz vor seiner Hinrichtung im Dom führt, ist beunruhigend genug: Die Worte des Geistlichen sind trostlos, das Gleichnis von dem Landmann, der das Gesetz sucht und vom Türsteher abgewiesen wird, gegen alle Hoffnung gerichtet.

MARTIN FORBERG

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