Der verspätete Rächer der SPD

Es ist kein Zufall, dass der Sozialdemokrat Ludwig Stiegler Union und FDP mit Vergleichen aus der Nazizeit provoziert

BERLIN taz ■ Als der Abgeordnete Otto Wels auf seinen Platz zurückging, war Adolf Hitler ziemlich wütend. Er stürmte noch mal ans Rednerpult, um auf den Sozialdemokraten Wels verbal einzuschlagen. Der Reichskanzler hatte es nicht ertragen können, dass ihm jemand auf offener Bühne widersprach. Hitler tobte.

Es war der 23. März 1933. Die Nationalsozialisten hatten gerade ein Gesetz eingebracht, das die Regierung ermächtigte, Gesetze zu verabschieden – das Ende der Weimarer Demokratie. Die Nazis und Deutschnationale applaudierten, viele schwiegen, und Reichtagspräsident Göring forderte die SPDler im Notparlament, der Kroll-Oper, auf: „Hören Sie sich das jetzt an!“

Ein gewisser Ludwig Stiegler, ein 20-jähriger Abiturient, hörte sich die Szenerie nicht an. Er las die Rede von Otto Wels nach, es war das Jahr 1964. „Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht“, hatte Wels den Nazis zugerufen, „und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll.“ Gegen die Machtergreifung der Nazis hat Wels’ Rede nichts geholfen. Für Ludwig Stiegler wurde diese deutsche Schlüsselszene 31 Jahre später Anlass, in die SPD einzutreten.

Heute ist der junge Mann von damals selbst Abgeordneter eines Parlaments, das im Reichstag seinen Sitz hat. Stiegler ist nicht ganz ohne Einfluss. Als stellvertretender SPD-Fraktionschef ist er mit allerlei Wichtigem befasst, darunter dem Verbotsantrag gegen die NPD. Stiegler erlaubt sich – anders als viele Abgeordnete – den Luxus, nebenher zu lesen. Winkler und Kershaw, angesehene Historiker, liegen auf seinem Nachttisch.

Seine Lektüre dient dem bayerischen SPDler freilich weniger zu persönlicher Erbauung. Stiegler benutzt seinen Zitaten- und Wissensschatz gerne mal, um den politischen Gegner anzuspitzen. Zuletzt tat er das, weil er den Eindruck hatte, dass Union und FDP den Verbotsantrag gegen die NPD verzögerten. „Gerade bei CDU/CSU und FDP“, sagte Stiegler dazu, „deren Vorläuferparteien am 23. März 1933 Hitler ermächtigt haben, nachdem sie ihn zuvor verharmlost und mit an die Macht gebracht haben, müsste die historische Schuld alle denkbaren Aktivitäten auslösen, wenigstens heute schon den Anfängen zu wehren.“

Die Liberalen warfen Stiegler daraufhin intellektuelles Unvermögen vor. Die CSU schrieb, der Sozialdemokrat Stiegler müsse „aus dem Verkehr“ gezogen werden. Ludwig Stiegler bleibt jetzt ganz gelassen. Er bestätigt, was er gesagt hat – denn er weiß, dass außer der SPD 1933 alle Reichstagsparteien der Ermächtigung zustimmten, darunter Nazis, Deutschnationale, Zentrum, Staatspartei und Volkspartei. Stiegler redet sich nicht heraus, seine Worte zur historischen Verantwortung konservativer und liberaler Parteien seien verfälscht worden – schließlich hat der 57-jährige Stiegler seine Provokation, trotz „heiligen Zorns“, erst aufgeschrieben und dann an die Agenturen gefaxt.

Ob jemand den alten Wilden beim Thema Weimar zu mehr Gelassenheit gemahnen könnte? Kaum, der Mann ist nicht das erste Mal mit den Konservativen von heute wegen der Konservativen von damals aneinander geraten. Das Parlamentsprotokoll ist Zeuge. CHRISTIAN FÜLLER