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Berliner Generation Nikotin

Immer mehr Jugendliche greifen in Berlin zur Zigarette. Unter den 15- bis 20-Jährigen ist Berlin bereits die Hauptstadt der Raucher. Das ist auch ein Hinweis auf steigende Arbeitslosigkeit und Armut

von UWE RADA

Es gab Zeiten, da war Berlin die Hauptstadt der deutschen Zigarettenindustrie. Millionen und Abermillionen investierten Firmen wie Philip Morris (Marlboro) oder Reynolds (Camel) in ihre Werke, vor allem in Neukölln. Das war vor der Wende, als es in Berlin noch Arbeiter gab und verlängerte Werkbänke.

Heute hat Berlin zwar immer mehr Arbeitslose und immer weniger Arbeiter, aber Hauptstadt ist es immer noch – die Hauptstadt der jugendlichen Raucher. Mit einem Anteil von 34 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren liegt die Hauptstadt bundesweit an der Spitze, gefolgt von den anderen beiden Stadtstaaten Bremen (33 Prozent) und Hamburg (31 Prozent).

Stark zugenommen hat der jüngsten Statistik zufolge (Mikrozensus 1999) auch die Zahl der weiblichen Raucherinnen. Wie die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Elisabeth Pott, gestern mitteilte, nimmt der Anteil der jungen Raucherinnen zwischen 18 und 24 Jahren seit Beginn der 90er-Jahre kontinuierlich zu. Insgesamt liegt der Raucherinnenanteil in Berlin bei 29 Prozent. Bei den Männern sind es 39 Prozent, die regelmäßig zur Zigarette greifen.

Dass die Zunahme der jugendlichen Raucher mit der Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Berlin zusammenhängt, davon ist Johannes Spatz überzeugt. „In den Hauptschulen“, sagt der Gesundheitsexperte, der in Steglitz-Zehlendorf die Arbeitsgruppe „Gesundheit 21“ leitet, „wird zwei- bis dreimal so viel geraucht wie in Gymnasien.“

Gleiches gelte für den weiteren Verlauf einer Raucherkarriere. So ist die Anzahl der Raucher unter den Arbeitslosen mit 60 Prozent bei den Männern und 46 Prozent unter den Frauen weitaus höher als bei denen, die in Lohn und Brot stehen. Auch die Verteilung auf die verschiedenen Berufe ist äußerst aufschlussreich. Während es unter den Lackierern 67 Prozent Raucher gibt, sind es bei den Lehrern 23 Prozent. Was die „kulturelle Praxis“ Rauchen betrifft, ist also durchaus auch in Berlin von einer Amerikanisierung zu sprechen.

Doch die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum in Berlin zeigt sich nicht nur in der Zunahme von Lungenkrebshäufigkeit in Stadtteilen wie Friedrichshain, Wedding, Neukölln und Kreuzberg, sondern auch in der ethnischen Herkunft der Raucher. So haben bei einer Untersuchung der Gesundheitsverwaltung 1999 43 Prozent aller Befragten angegeben, dass es in ihrem Haushalt keinen Raucher gebe. Bei den Befragten nichtdeutscher Herkunft lag dieser Anteil bei nur 34 Prozent. Einen oder mehrere Raucher gab es dagegen bei 44,5 Prozent der deutschen und bei 49,4 Prozent der nichtdeutschen Haushalte.

Doch die zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit ist nur ein Grund, warum Berlin zur Hauptstadt der jugendlichen Raucher geworden ist. Der andere liegt in der Zunahme des Rauchens im Ostteil der Stadt. Hier entdeckten die Jugendlichen, so Spatz, „immer mehr die Verlockungen der Werbeindustrie“. Laut Mikrozensus hat innerhalb der letzten fünf Jahre der Zuwachs an Rauchern zwischen 15 und 20 Jahren in Westberlin 30 Prozent, in den Ostbezirken dagegen um 50 Prozent betragen. In Hohenschönhausen haben einer Studie des Bezirksamts zufolge bereits 8 Prozent der 8- bis 10-Jährigen geraucht. Bei den 10- bis 12-Jährigen waren es schon 37 Prozent, und bei den 12- bis 14-Jährigen 55 Prozent.

Spatz’ Prognosen sind deshalb alles andere als optimistisch. „Noch sterben in Berlin pro Jahr 1.000 Männer und 500 Frauen an Lungenkrebs.“ Doch diese Zahl werde sich bald angleichen. „Wenn das so weitergeht, wird bei den Frauen in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr der Brustkrebs, sondern der Lungenkrebs an erster Stelle stehen.“

Spatz will der Amerikanisierung des Raucherverhaltens deshalb auch eine Amerikanisierung in der Sanktionierung des Rauchens entgegensetzen (siehe Kasten). Doch nicht zuletzt er selbst weiß, dass seine Forderung – „Berlin soll dringend die Hauptstadt der Nichtraucher werden“ – nur dann realistisch ist, wenn wieder mehr Jobs und bessere Perspektiven geschaffen werden.

Am besten nicht nur in der Neuköllner Zigarettenindustrie.

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