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ZUM HUNDERTSTEN GEBURTSTAG VON NÂZIM HIKMETDer Baum mit den blauen Augen

Der türkische Schriftsteller Nâzim Hikmet engagierte sich schon mit 17 Jahren in der Linken und musste 1921 außer Landes gehen. 1937 wurde er in einem Schauprozess zu 29 Jahren Haft verurteilt, viele seiner bedeutendsten Werke – Prosa, Lyrik, Dramen – entstanden im Gefängnis. Nach seiner Freilassung 1950 emigrierte Hikmet in die UdSSR, wo er 1963 starb.Von JOHN BERGER *

FREITAG. Nâzim, ich traure, und ich möchte diese Trauer mit dir teilen, wie du so viele Hoffnungen und so vieles Trauern mit uns geteilt hast.

Das Telegramm kam nachts,

nur drei Silben:

„Er ist tot.“

Ich traure um meinen Freund Juan Muñoz, einen wunderbaren Künstler, der gestern, mit 48 Jahren, an einem Strand in Spanien gestorben ist.

Ich möchte dich etwas fragen, was mir Rätsel aufgibt. Nach einem natürlichen Tod kommt, anders als bei einem gewaltsamen Tod durch Mord oder Hunger, zuerst der Schock, es sei denn, die Person war lange krank, dann kommt ein maßloses Verlustgefühl, zumal wenn die Person jung ist –

Der Tag bricht an

Aber mein Zimmer

Besteht aus einer langen Nacht.

Dann folgt der Schmerz, der von sich sagt, er höre niemals auf. Doch mit diesem Schmerz kommt verstohlen etwas anderes, das einer Posse ähnelt, doch keine ist (Juan war immer voller Possen), etwas, das halluziniert, vielleicht ähnlich jener Gebärde, mit der ein Zauberer seine Tuchnummer beendet – eine Art Leichtigkeit, die dem, was man empfindet, vollkommen entgegengesetzt ist. Erkennst du, was ich meine? Ist diese Leichtigkeit frivol oder eine neue Anweisung?

Fünf Minuten, nachdem ich dich dies gefragt, erhielt ich ein Fax von meinem Sohn Yves, einige Zeilen, die er gerade für Juan geschrieben hatte:

Immer erschienst du

Mit einem Lachen

Und einem neuen Trick.

Immer verschwandest du

Doch deine Hände blieben

Auf unsrem Tisch.

Du verschwandest

Doch deine Karten blieben

in unseren Händen.

Du wirst wieder erscheinen

Mit einem neuen Lachen

Das ein Trick sein wird.

Samstag. Ich weiß nicht mehr, ob ich Nâzim Hikmet überhaupt je gesehen habe. Ich könnte darauf schwören, kann aber die Indizien dafür nicht finden. Ich glaube, es war 1954 in London. Vier Jahre, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, neun Jahre vor seinem Tod. Er sprach auf einer politischen Versammlung am Red Lion Square in London. Er sagte ein paar Worte, dann las er einige Gedichte, manche auf Englisch, andere auf Türkisch. Seine Stimme war kräftig, ruhig, äußerst persönlich und sehr musikalisch. Aber es war, als käme sie nicht aus seinem Hals – jedenfalls nicht in jenem Augenblick. Es war, als hätte er ein Radio in der Brust, das er mit einer seiner großen, leicht zittrigen Hände ein- und ausschaltete. Ich beschreibe das schlecht, weil seine Präsenz und Ehrlichkeit sehr deutlich waren. In einem seiner langen Gedichte beschreibt er sechs Menschen, die Anfang der Vierzigerjahre in der Türkei eine Symphonie von Schostakowitsch im Radio hören. Drei der sechs sind im Gefängnis – wie er. Die Übertragung ist live; die Symphonie wird zeitgleich in Moskau gespielt, mehrere tausend Kilometer entfernt. Als ich Hikmet am Red Lion Square seine Gedichte lesen hörte, hatte ich den Eindruck, dass seine Worte ebenfalls vom anderen Ende der Welt kamen. Nicht, weil sie schwer zu verstehen gewesen wären (das waren sie nicht), auch nicht, weil sie verschwommen oder müde gewesen wären (sie waren erfüllt vom Vermögen, zu überdauern), sondern weil sie so gesagt wurden, als triumphierten sie über Entfernungen und transzendierten endlose Trennungen. Das Hier aller seiner Gedichte ist anderswo.

In Prag karrt ein Pferdewagen

Einspännig einsam

Am Jüdischen Friedhof vorbei

Hat Sehnsucht geladen nach einer anderen Stadt,

Ich sitz auf dem Bock …

Noch als er auf dem Podium saß, bevor er aufstand, um zu sprechen, sah man, dass er ein ungewöhnlich mächtiger und großer Mann war. Nicht umsonst trug er den Spitznamen „Der Baum mit den blauen Augen“. Als er aufstand, gewann man den Eindruck, dass er auch leicht war, so leicht, dass er Gefahr lief, in die Luft aufzusteigen. Vielleicht habe ich ihn ja auch nie gesehen, denn es wäre doch recht unwahrscheinlich, dass Hikmet bei einer Versammlung der Internationalen Friedensbewegung in London mit mehreren Halteseilen ans Podium festgebunden war, damit er auf der Erde blieb. Doch das ist meine klare Erinnerung. Seine Wörter stiegen, nachdem er sie ausgesprochen hatte, in den Himmel auf – die Versammlung war im Freien –, und sein Körper tat, als folge er den Wörtern, die er geschrieben hatte und die immer höher hinaufwehten über den Platz und über die Funken der einstmaligen Straßenbahnen entlang der Theobald’s Road, die drei, vier Jahre zuvor abgeschafft worden waren.

Du bist ein Bergdorf

In Anatolien,

Du bist meine Stadt,

Die schönste und unglücklichste.

Du bist ein Hilferuf – du bist ja auch mein Land,

Die Schritte, die zu dir hinrennen,

sind meine.

Montagmorgen. Fast alle zeitgenössischen Dichter, die während meines langen Lebens am meisten für mich gezählt haben, habe ich in Übersetzung gelesen, selten in ihrer Originalsprache. Ich glaube, vor dem zwanzigsten Jahrhundert hätte das niemand sagen können. Die Frage, ob Lyrik übersetzbar sei, ist uralt. Sie wurde mit Kammerargumenten geführt, wie Kammermusik. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die meisten Kammern zu Schutt. Neue Kommunikationsmittel, globale Politik, Imperialismus, Weltmärkte und so weiter warfen willkürlich und auf nie dagewesene Weise Millionen Menschen zusammen und rissen Millionen auseinander. Und als Ergebnis veränderten sich auch die Erwartungen an die Lyrik; immer mehr der besten Lyrik zählte auf Leser, die immer weiter entfernt waren.

Unsre Gedichte

Müssen wie Meilensteine

Die Straße säumen.

Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts wurden viele nackte Gedichtzeilen zwischen verschiedenen Kontinenten, zwischen verlassenen Dörfern und fernen Hauptstädten gespannt. Ihr alle wisst das, ihr alle, Hikmet, Brecht, Vallejo, Atilla Jósef, Adonis, Juan Gelman …

Montagnachmittag. Ich war knapp zwanzig als ich erstmals Gedichte von Nâzim Hikmet las. Sie erschienen in einer obskuren internationalen Literaturzeitschrift, die unter der Ägide der britischen Kommunistischen Partei herausgegeben wurde. Ich las sie regelmäßig. Die Parteilinie über Lyrik war Quatsch, doch die Gedichte und Erzählungen waren oft anregend.

Zu der Zeit war der große Theaterreformer Wsewolod Meyerhold schon in Moskau hingerichtet worden. Wenn ich gerade jetzt an Meyerhold denke, dann weil Hikmet ihn verehrte und dieser ihn beeinflusste, als er Anfang der Zwanzigerjahre erstmals nach Moskau kam.

Ich verdanke dem Theater Meyerholds sehr viel. 1925 war ich wieder in der Türkei und organisierte in einem der Industrieviertel von Istanbul das erste Arbeitertheater. Bei meiner Arbeit an diesem Theater als Regisseur und Autor merkte ich, dass Meyerhold uns neue Möglichkeiten eröffnet hatte, für und mit dem Publikum zu arbeiten.“

Die neuen Möglichkeiten hatten Meyerhold nach 1937 das Leben gekostet, doch in London wussten die Leser der Zeitschrift dies noch nicht.

Was mich an Hikmets Gedichten so beeindruckte, war ihr Raum: Sie enthielten mehr Raum als jede andere Lyrik, die ich bis dahin gelesen hatte. Sie beschrieben den Raum nicht; sie durchschritten ihn, sie überquerten Berge. Sie handelten auch vom Tun. Sie erzählten von Zweifeln, Einsamkeit, Verlust, Trauer, doch diesen Empfindungen folgten Taten, statt Ersatz für die Tat zu sein. Raum und Tat gehen miteinander einher. Ihre Antithese ist das Gefängnis, und in türkischen Gefängnissen schrieb Hikmet als politischer Gefangener sein halbes Lebenswerk.

Mittwoch. Nâzim, ich möchte dir den Tisch beschreiben, an dem ich sitze. Ein weißer Gartentisch aus Metall, wie er auf dem Grundstück einer yali (Villa) am Bosporus stehen könnte. Dieser steht auf der überdachten Veranda eines Häuschens in einer südöstlichen Pariser Vorstadt. Das Haus wurde 1938 gebaut, eines von vielen Häusern, die damals für Handwerker, Händler, gelernte Arbeiter gebaut wurden. 1938 warst du im Gefängnis. An einem Nagel über deinem Bett hing eine Uhr. In dem Trakt über dir erwarteten drei Banditen in Ketten ihr Todesurteil.

Auf diesem Tisch liegen immer zu viele Papiere. Jeden Morgen versuche ich als Erstes, sie bei einem Kaffee wieder in eine Ordnung zu bringen. Rechts von mir steht eine Topfpflanze, die dir bestimmt gefallen würde. Sie hat sehr dunkle Blätter; diese haben auf der Unterseite die Farbe der Damaszenerpflaume; oben hat das Licht sie dunkelbraun verfärbt. Die Blätter sind zu dreien angeordnet, als wären sie Nachtfalter – sie sind auch so groß wie Schmetterlinge –, die sich von dieser Blume nähren. Die Blüten der Pflanze sind sehr klein, pink und unschuldig wie Kinderstimmen. Es ist eine Art Riesenklee. Der hier kommt aus Polen, wo die Pflanze Kiniczyna heißt. Ich bekam sie von der Mutter eines Freundes, der sie in ihrem Garten nahe der ukrainischen Grenze gezogen hat. Seine Mutter hat auffallend blaue Augen und streicht immerzu über ihre Pflanzen, wenn sie durch den Garten oder im Haus herumläuft, so wie manche Großmütter immerzu ihren Enkelkindern über den Kopf streichen müssen.

Meine Liebe meine Rose,

meine Reise über die polnische Ebene hat begonnen:

Ich bin ein kleiner Junge, glücklich und erstaunt

Ein kleiner Junge,

Der sein erstes Bilderbuch betrachtet,

Mit Leuten,

Tieren,

Dingen, Pflanzen.

Beim Geschichtenerzählen hängt alles davon ab, was auf was folgt. Und die wahrste Reihenfolge ist selten die nahe liegende. Man probiert. Häufig viele Male. Deshalb liegen auf dem Tisch auch eine Schere und eine Rolle Tesaband. Das Band ist nicht in einem der Dinger, die es einem erleichtern, einen Streifen abzureißen. Ich muss das Band mit der Schere abschneiden. Das Schwierige ist, den Anfang des Bandes zu finden und es dann abzuziehen. Ich suche ungeduldig, gereizt mit den Fingernägeln. Wenn ich also den Anfang gefunden habe, klebe ich ihn an die Tschkante, rolle das Band ab, bis es den Fußboden berührt, und lasse es dann so hängen.

Manchmal gehe ich von der Veranda aus in das angrenzende Zimmer, wo ich plaudere, esse oder Zeitung lese. Vor einigenTagen, als ich in dem Zimmer saß, fiel mein Blick auf etwas, weil es sich bewegte. Vor dem Tisch, neben den Beinen meines leeren Stuhls plätscherte eine feine Kaskade glitzernden Wassers auf den Verandaboden. Auch die Gebirgsströme der Alpen sind an ihrem Anfang nichts als ein solches Rinnsal.

Eine Rolle Tesaband, das von einem durch das Fenster eindringenden Luftstrom bewegt wird, vermag mitunter Berge zu versetzen.

Donnerstagabend. Vor zehn Jahren stand ich in Istanbul beim Bahnhof Haydar-Pacha vor einem Gebäude, in dem die Polizei Verdächtige verhörte. Im Obergeschoss wurden politische Gefangene festgehalten und ins Kreuzverhör genommen, manchmal über Wochen. 1938 wurde dort Hikmet verhört.

Das Gebäude war nicht als Gefängnis geplant gewesen, sondern als massige Verwaltungsfestung. Es wirkt unzerstörbar, wie es dort steht, aus Backsteinen und Schweigen erbaut. Gefängnisse, die als solche gebaut sind, haben etwas Unheilvolles, aber häufig auch etwas Nervöses, Provisorisches. Das Gefängnis in Bursa beispielsweise, wo Hikmet zehn Jahre verbrachte, trug wegen seiner unregelmäßigen Anlage den Spitznamen „das Steinflugzeug“. Die seriöse Festung beim Bahnhof in Istanbul, auf die ich blickte, hatte dagegen das Selbstvertrauen und die Gelassenheit eines Monuments der Stille.

Wer da auch drin ist und was da auch drin geschieht – verkündete der Bau in gesetzten Tönen –, wird vergessen sein, aus den Akten entfernt, vergraben in einem Spalt zwischen Europa und Asien.

Da begriff ich etwas über die einzigartige und unausweichliche Strategie seiner Lyrik: Sie musste beständig über die eigene Begrenzung hinausreichen! Immer haben Gefangene überall von der großen Flucht geträumt, Hikmets Lyrik aber tat dies nicht. Seine Lyrik brachte, bevor sie begann, das Gefängnis als ein kleines Pünktchen auf die Karte der Welt.

Das schönste Meer ist

das noch nicht befahrene.

Das schönste Kind ist

das noch nicht herangewachsene.

Unsere schönsten Tage sind

die noch nicht erlebten.

Und das schönste Wort, das ich dir

sagen möchte, ist

das noch nicht gesagte.

Sie nahmen uns gefangen,

warfen uns ins Gefängnis:

ich innerhalb der Mauern,

du außerhalb.

Unsere Sache ist unbedeutend.

Eigentlich das Schlimmste jedoch:

der Mensch trägt, wissentlich oder unwissend,

das Gefängnis in sich selbst …

Viele, viele Menschen trieb man so weit,

ehrliche, fleißige, gute Menschen,

die es verdienen, so sehr geliebt zu werden, wie ich dich liebe …

Manchmal scheint mir, als seien viele der größten Gedichte des zwanzigsten Jahrhunderts – von Frauen wie von Männern – die brüderlichsten, die je geschrieben wurden. Wenn das so ist, dann hat es nichts mit politischen Parolen zu tun. Es trifft auf Rilke zu, der apolitisch war, auf Borges, der ein Reaktionär war, und auf Hikmet, der lebenslang Kommunist war. Unser Jahrhundert war ein Jahrhundert beispielloser Massaker, die Zukunft aber, die es sich ersann (und für die es mitunter kämpfte), kannte die Idee der Brüderlichkeit. Dies war nur in sehr wenigen Jahrhunderten der Fall.

Diese Männer, Dino,

Die Lichtfetzen halten,

Wohin gehen sie

In dieser Finsternis, Dino?

Du, auch ich:

Wir sind unter ihnen, Dino.

Auch wir, Dino,

Haben einen Blick vom blauen Himmel erhascht.

Samstag. Vielleicht sehe ich dich auch diesmal nicht. Und dennoch würde ich darauf schwören. Du sitzt mir gegenüber am Tisch auf der Veranda. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie die Form des Kopfes häufig auf die Denkweise hindeutet, die darin vorgeht? Es gibt Köpfe, die erbarmungslos eine Rechengeschwindigkeit anzeigen. Andere, die ein entschlossenes Streben nach alten Ideen enthüllen. Viele verraten in der heutigen Zeit Unverständnis gegenüber dem ununterbrochenen Verlust. Dein Kopf, Nâzim, suggeriert mir – durch seine Größe und durch die blauen Augen mit den vielen Fältchen– die Koexistenz zahlreicher ineinander geborgener Welten mit verschiedenen Himmeln; er ist nicht einschüchternd, er ist still, aber er ist an Übervölkerung gewohnt.

Ich möchte dich zu der Zeit befragen, in der wir heute leben. Vieles, wovon du glaubtest, es geschehe in der Geschichte, oder glaubtest, es sollte geschehen, hat sich als Illusion erwiesen. Der Sozialismus, wie du ihn dir ersannst, wird nirgends errichtet. Der Unternehmenskapitalismus schreitet ungehindert voran – wenngleich zunehmend umstritten und auch wenn die Twin Towers zerstört wurden. Die überbevölkerte Welt wird mit jedem Jahr ärmer. Wo ist heute der blaue Himmel, den du mit Dino sahst?

Ja, die Hoffnungen, entgegnest du, sind in Fetzen, doch was ändert das? Gerechtigkeit ist noch immer ein Einwort-Gebet, wie Ziggy Marley heutzutage bei euch singt. Die ganze Geschichte dreht sich um Hoffnungen, die genährt, verloren, erneuert werden. Und mit neuen Hoffnungen kommen neue Theorien. Für die Opfer der Überbevölkerung aber, für diejenigen, die wenig oder nichts haben – außer zuweilen Mut und Liebe –, für diejenigen läuft das mit der Hoffnung anders. Für sie ist die Hoffnung etwas, worauf man beißen, was man sich zwischen die Zähne schieben kann. Vergiss das nicht. Sei Realist. Mit Hoffnung zwischen den Zähnen kommt die Kraft, weiterzumachen, selbst wenn die Müdigkeit nicht mehr nachlässt, kommt die Kraft, wenn nötig, nicht im falschen Moment zu schreien, kommt vor allem die Kraft, nicht zu heulen. EinMensch mit Hoffnung zwischen den Zähnen ist ein Bruder oder eine Schwester, der oder die Respekt gebietet. Jene ohne Hoffnung in der wirklichen Welt sind dazu verurteilt, allein zu sein. Bestenfalls können sie Mitleid darbieten. Und ob diese Hoffnungen zwischen den Zähnen neu oder in Fetzen sind, macht kaum einen Unterschied, wenn es darauf ankommt, die Nächte zu überleben und sich einen neuen Tag zu denken. Hast du vielleicht einen Kaffee?

Ich mache welchen.

Ich verlasse die Veranda. Als ich mit zwei Tassen – und es ist türkischer Kaffee – aus der Küche komme, bist du fort. Auf dem Tisch, gleich da, wo das Tesaband hängt, liegt ein Buch, aufgeschlagen bei einem Gedicht, das du 1962 schriebst.

Wäre ich eine Platane – würde ich in

ihrem Schatten ausruhen

Wäre ich ein Buch,

würde ich, ohne gelangweilt zu sein,

in schlaflosen Nächten lesen

ein Bleistift wollte ich nicht sein, nicht

einmal zwischen meinen Fingern

Wäre ich eine Tür

würde ich mich für die Guten öffnen

und für die Schlechten schließen

Wäre ich ein Fenster, ein weit offenes

Fenster, ohne Vorhänge,

würde ich die Stadt in mein Zimmer holen

Wäre ich ein Wort,

würde ich nach dem Schönen, dem

Gerechten, dem Wahren rufen

wäre ich ein Wort,

würde ich leise meine Liebe sagen.

Deutsch von Eike Schönfeld. Gedichtbände von Nâzim Hikmet (1902–1963) sind in deutscher Übersetzung im Dagyeli Verlag, Frankfurt am Main, erschienen (zuletzt „Eine Reise ohne Rückkehr“).

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