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Auszug aus Argentinien

aus Río Cuarto INGO MALCHER

Sie zieht die Schultern hoch und blickt ein wenig verloren in ihr eigenes Wohnzimmer. Das Sofa mit dem Blümchenmuster, die Stereoanlage, das dunkle Schränkchen mit den Videokassetten. „Von all dem muss ich mich wohl trennen, es fällt mir schwer“, sagt María Dutli. Nur die beiden Keyboards will sie mitnehmen, alles andere bleibt hier. Und dann ist da noch Sam, der neugierige Siamkater, auch er muss zurückbleiben in der Kleinstadt Río Cuarto, Provinz Córdoba, Argentinien.

Nie hätte sie gedacht, dass es so weit kommen würde, aber jetzt steht ihr Entschluss fest. María Dutli will mit ihrem Mann Carlos Steiner auswandern, in die Schweiz. Sie sagt: Zurück in die Schweiz. Im Jahr 1937 kam ihr Vater aus Bischoffszell im Thurgau nach Argentinien. María Dutli ist heute 53 Jahre alt. Sie hat das Land ihres Vaters nie gesehen. Aber sie hat einen Schweizer Pass, sie hat 21 Jahre lang in die staatliche Rentenkasse der Schweiz einbezahlt und sie hat alle ihre drei Söhne bei der Schweizer Botschaft angemeldet.

Mit ihren Plänen, das Land zu verlassen, ist das Ehepaar nicht allein. Das einstige Einwandererland Argentinien wird nach der jüngsten Wirtschaftskrise endgültig zum Auswandererland – vor allem für Argentinier mit Vorfahren aus Deutschland, Italien, Spanien und der Schweiz. Wer Großeltern hat, die aus diesen Ländern einwanderten, kann einen Pass beantragen. So blättern tausende derzeit in Familienalben und schauen sich ihre europäischen Großeltern noch einmal an. Aber auch Argentinier ohne nahe Vorfahren aus Europa versuchen, längerfristige Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen (siehe Kasten).

Schon gegen Mitternacht ist die Schlange am italienischen Konsulat in Buenos Aires über einen Block lang. Wer erst am Morgen kommt, hat keine Chance mehr, am selben Tag das leicht heruntergekommene Gebäude zu betreten. Die Konsulatsbeamten sind überlastet. Wer heute seinen Antrag stellt, der bekommt erst im Mai 2005 einen Termin. Frühestens.

Arme Schweizer Bauern

Im Schweizer Konsulat geht es dagegen sehr viel ruhiger zu. Im Durchschnitt bitten etwa 20 Menschen pro Tag um Auskunft, ob sie Chancen auf Einbürgerung haben. Wer sich aber bis zum 32. Lebensjahr nicht bei der Botschaft gemeldet hat, der verliert das Recht auf Wiedereinbürgerung. In Argentinien sind 14.800 Schweizer Staatsbürger bei der Botschaft registriert. Es wird geschätzt, dass im Land etwa 100.000 Menschen leben, die von schweizer Vorfahren abstammen. Im Jahr 1856 kam die erste Einwanderungswelle armer Bauern aus dem Wallis nach Argentinien. Alle, die damals ankamen, wurden in der Botschaft in einem dicken Buch mit Ledereinband fein säuberlich aufgelistet. Bei María Dutli und Carlos Steiner fiel die Entscheidung kurz vor Weihnachten. María Dutli ist ausgebildete Komponistin, die mehrere eigene Werke registriert hat. Mit 13 Jahren spielte sie in New York auf dem Klavier die Appassionata-Sonate von Ludwig van Beethoven vor einer Festgesellschaft. Doch in Río Cuarto weiß dies niemand zu schätzen. Nie konnte sie hier Arbeit finden.

Im Dezember hat auch Carlos Steiner seinen Job bei einem Großhändler für Fotokopierer verloren, weil die Firma wegen der Wirtschaftskrise nicht mal mehr eine Tonerpatrone verkauft hat. Noch immer schuldet ihm sein ehemaliger Chef das Dezembergehalt. Auf dem Computer in María Dutlis Musizierzimmer sind noch die Kundendateien gespeichert, die sie für ihren Mann regelmäßig nach dem Abendessen angelegt hat. Carlos Steiner betrieb doppelte Buchführung, zu Hause und in der Firma. Kein Kunde entwischte ihm, ohne zu bezahlen, jede Schraube, die er in einen Fotokopierer hineingedreht hat, ist in einer Exxel-Tabelle aufgelistet.

Geholfen hat ihm das nicht, um der Wirtschaftskrise zu entkommen. Mit der Abwertung des argentinischen Pesos um etwa 40 Prozent Anfang des Jahres hat Steiner alle Hoffnungen begraben, dass es mit der Firma aufwärts gehen könnte. Denn die Kopierer und Drucker, die er verkaufte, werden nach Argentinien importiert und sind damit noch teurer geworden. „Niemand kann sich heute ein neues Gerät leisten“, klagt er. Chancen auf eine neue Anstellung hat er mit seinen 64 Jahren kaum. Über 20 Prozent der Argentinier sind arbeitslos. Seit Dezember ist Carlos Steiner einer von ihnen.

Es bleibt die Hoffnung auf ein besseres Leben im Land der Väter. Wie stellen sie sich die Schweiz vor? „So nicht! Jedenfalls ist nicht alles so wie hier abgebildet“, sagt Carlos Steiner und deutet auf einen Tourismusprospekt. „Bienvenido a Suiza“ – Willkommen in der Schweiz steht darauf, im Hintergrund das Foto eines idyllischen Alpenpanoramas mit schneebedeckten Bergspitzen, grünen Wiesen, dunkelblauen Seen. Aber was ist dann die Schweiz? Eine Antwort darauf haben sie nicht. „Ich nehme jede Arbeit an, jede“, sagt Carlos Steiner unvermittelt und rudert dabei wild mit den Armen. Seine Frau sagt im selben Moment: „Wir wurden wie Schweizer erzogen, nicht wie Argentinier.“

Ihr Vater war ein Käser

Das war in dem Dorf Canals, mitten auf den Land. Dort haben beide ihr ganzes Leben verbracht, bevor sie vor sechs Jahren in die Stadt zogen. Max Othmar Dutli, María Dutlis Vater, arbeitete seit seiner Ankunft in Argentinien als Käser. In Canals lebten außer den Dutlis noch zwei weitere Schweizer Familien und mehrere deutsche. Ihre Mutter lebt noch immer dort. Die Schweiz ist für María Dutli vielleicht etwa so wie das Dorfleben in Canals. „Wir haben gemeinsam gefeiert und gemeinsam Lieder gesungen“, schildert sie ihre kleine Idylle. Man weiß nicht so genau, ob es die je gegeben hat. Als Kind in Canals hat María Dutli Schweizerdeutsch gesprochen, dann aber aufgehört, weil Freundinnen sie hänselten. Jetzt büffelt sie mit ihrem Mann Vokabeln und Grammatik. Beide sprechen kein Wort Deutsch. Auf einem kleinen Klapptisch im Wohnzimmer liegen Deutschkassetten und Hefte. Darin ist ein bunter Comic abgebildet: „Klaus fliegt nach London. Wo fliegt Klaus hin?“

Ohne Sprache keine Arbeit, das ist beiden klar. Immer wieder betont Carlos Steiner, dass er jeden Job machen würde. Noch vieles ist zu klären vor der Abreise. Das One-Way-Ticket ist noch nicht gekauft, die Ersparnisse der Dutlis sind per Regierungsanordnung eingefroren worden wie die Konten aller Argentinier. Wo sie vom Flughafen aus hinfahren, wenn sie einmal ankommen, wo sie übernachten, wissen sie noch nicht. „Wir wollen alles gut vorbereiten, nicht ankommen und dann sagen: So, jetzt macht etwas mit uns“, sagt María Dutli. Aber wie planen, wenn kaum Kontakt zu den Verwandten besteht?

Auf der Straße atmet María Dutli tief durch und blickt zum Horizont in Richtung der Berge. Sie sagt: „Es wird hart, von meinem Musizierzimmer habe ich einen wundervollen Blick auf die Berge Córdobas, dann fühle ich mich wie Heidi, ich werde das alles schwer vermissen.“ Beide sind verunsichert. Sie wissen nicht, was die Schweiz ist, wie es dort aussieht, wie das Leben dort funktioniert. Alles wird anders, es ist ein Risiko. Sie wissen, dass sie sich viel vorgenommen haben. Sie sind nervös. Es ist die Angst, dass es mit dem Neuanfang möglicherweise doch nicht klappt. Aber sie müssen es versuchen. Sie würden es sich niemals verzeihen, wenn sie nicht alles unternommen hätten, um in die Schweiz zu kommen.

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