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Zweckmäßig von der Türschwelle herab

Zum 100. U-Bahn-Geburtstag durfte gestern auch der gemeine Berliner einen Sonderzug genießen

Am U-Bahnhof Schlesisches Tor wartet fröstelnd eine Hand voll Berliner. Genau wie vor zur U-Bahn-Einweihung vor 100 Jahren darf auch beim Jubiläum das gemeine Volk erst drei Tage nach der Prominenz feiern. Immerhin geht es gerecht zu: Der Sonderzug zum Olympiastadion hat Verspätung. Bereits am Freitag war der historische A 1 aus dem Jahr 1902 einmal liegen geblieben. Aber solche Pannen nehmen U-Bahn-Liebhaber gern in Kauf. Schließlich warten an der Endhaltestelle ein Markt mit Sammlerstücken, T-Shirts und freier Eintritt ins U-Bahn-Museum.

Eine Attraktion hängt bereits am Schlesischen Tor: die erste von vierzehn quadratischen Gedenktafeln, die die BVG in den kommenden Monaten entlang der Linie 1 montiert. Dann kommt der Zug, und ein galanter Schaffner mit polierten Messingknöpfen am Jackett öffnet die Tür zum Triebwagen 262.

Nikod Kreischebjrndson steigt ein und wundert sich über die gepflegten Holzwagen. „Hübsch“, sagt er und mit einem Blick auf die Umsitzenden. „Durchschnittsalter 60 Jahre.“ Der 21-Jährige ist unterwegs zur Unibibliothek und hat nur zufällig auf den roten Kunstledersitzen Platz genommen. Im Gegensatz zu Siegfried Kasper. Der 73-Jährige hat früher als Aufbauleiter für die Berliner Verkehrsbetriebe der DDR gearbeitet. Jetzt will er noch mal in die U-Bahn-Geschichte eintauchen und auf dem Jubiläumsmarkt stöbern. „Man hängt ja schließlich noch beruflich damit zusammen.“

Während andere Passagiere über eine Sonderzugfahrt debattieren, die ein 5-Gänge-Menü beinhaltet, bekommt der vierjährige Tim vor Staunen über den alten Waggon den Mund gar nicht mehr zu. „Der quietscht ja gar nicht“, stellt er erstaunt fest und schaut seinen Urgroßvater an. „Und ganz schön schnell fährt er auch.“ Denn der Sonderzug hält bereits am Olympiastadion. Diesmal hat die Technik nicht versagt. Und wie ein historisches Schild an der Schiebetür verheißt, ist ein außerplanmäßiger Halt nicht ungefährlich: „Beim Aussteigen auf der Strecke Vorsicht üben wegen der großen Höhe des Wagenfußbodens über dem Bahnkörper. Frauen und Kinder lassen sich zweckmäßig von der Türschwelle herab.“

ANNE VILLWOCK

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