piwik no script img

Für eine Handvoll Medaillen

Nach dem Gold ist vor dem Gold: Christoph Langen, der Clint Eastwood des Bobsports, und sein Anschieber Markus Zimmermann verzichten nach dem Sieg im Zweier aufs Siegerbier und arbeiten stattdessen am Vorhaben Viererbob weiter

aus Salt Lake City MARTIN HÄGELE

Bobfahrer sind besondere Menschen. Kerle ohne Angst, mit deftiger Umgangssprache. Und sie müssen viel Druck aushalten. Unmenschlichen Druck: „Eine Hundertstelsekunde kommt dir vor wie eine Stunde“, hat Markus Zimmermann gesagt, „wenn du einen kleinen Fehler machst, ist alles vorbei“. Man braucht Routine gegen diesen Stress, weil der Kampf ja über zwei Tage und vier Läufe geht. Markus Zimmermann hat noch nicht oft so detailliert über seinen Job als Bremser erzählt, aber an diesem Abend, an dem er den roten Schlitten Deutschland I mit Christoph Langen als Pilot zur Goldmedaille im Zweierbob geschoben hat (zur ersten deutschen Goldmedaille seit 1984, als der DDR-Fahrer Dietmar Schauerhammer in Sarajewo siegte), haben Langen und Zimmermann die Beobachter einmal etwas ausführlicher in ihr geheimnisvolles Gewerbe blicken lassen.

Zimmermann berichtete, wie sie in der Nacht zuvor zusammengesessen und sich alte Geschichten erzählt hatten über alles Denkbare, nur nicht übers Bobfahren. „Man darf ja nicht über Zeitlisten reden, sonst wachst du nachts auf und denkst daran“, sagte Zimmermann. Langen wiederum sprach von seinen Anfängen in der Saison 1984/85, als er in jedem Lauf auf einen Schlitten aus der DDR, UdSSR oder der Schweiz drei bis fünf Zehntel und meistens eine halbe Sekunde verloren hat. „Heute stehst du nach drei von vier Rennen bis auf die Hundertstel gleichschnell da, und denkst, das kann doch nicht wahr sein, dass das Rennen erst jetzt losgeht“.

Noch zwei Stunden nachdem Langen/Zimmermann als Olympiasieger feststanden, wurde über jene neun Hundertstelsekunden diskutiert, die sie im letzten Lauf den Schweizern Christian Reich und Steve Anderhub abgenommen haben. Selbst für die Beteiligten war es fast nicht nachvollziehbar, wo diese Winzigkeiten, die über Gold und Silber entschieden, gewonnen oder verloren wurden: Er wisse nicht, wo er besser hätte fahren sollen, sagte der Fahrer von Bob Schweiz I. Christoph Langen berichtete von diesem Gefühl, „jeden Fehler auszuschalten, du merkst, wie es flutscht zwischen den Kurven fünf, sechs, sieben, acht, neun und zehn, und dann bist du schon in der elften Kurve: Hoppla, das war’s“. Aber auch der routinierteste und mit Sicherheit brutalste unter allen Bobpiloten, der Clint Eastwood am Lenkseil, wie er nach seinem Olympiasieg im Viererschlitten 1998 genannt wurde, kann diese neun Hundertstel nicht wirklich festmachen.

Dass der 39-jährige Sportsoldat sein Metier, in dem es ähnlich geheimnisumwittert zugeht wie in der Formel 1, so souverän beherrscht, hängt mit Eigenschaften wie Disziplin und Professionalität zusammen. Der ehemalige Zehnkämpfer gehörte gewiss nicht zu den Supertalenten, die solch einen Boliden auf Kufen nur mit dem Gefühl in Fingern und manchmal auch im Hintern durch den Eiskanal steuern. Langen entsprach ursprünglich überhaupt nicht dem Klischee der tollkühnen Typen in den rasenden Kisten. Verbandspräsident Klaus Kotter wollte ihn nach der ersten Saison gar aus dem Nationalkader werfen. Mit der Begründung, Langen sei Brillenträger und zudem nicht trinkfest genug für den Sport.

Am Sonntagabend hat Langen gesagt, er könne diesen Traum, den er sich mit dem Erfolg im Zweierbob verwirklicht habe, erst in 14 Tagen zu Hause in Aschaffenburg oder bei seinem Klub Spvgg Unterhaching feiern. Denn: „In dem Augenblick, in dem wir vom Siegerpodest herabsteigen, beginnt die Vorbereitung auf den Wettbewerb im Viererbob.“ Auch Zimmermann lehnt die weißbierselige Gratulationstour durchs Deutsche Haus ab: „Ich kann mir jetzt keinen Alkohol leisten. In meinem Alter und dem aktuellen Trainingszustand würde ich zwei Tage brauchen, um ein paar Bier wieder abzubauen. Die Erholungsphase dauert einfach länger.“

Zimmermann, zwei Jahre jünger als sein Steuermann, gilt als einer der letzten Amateure unter den Topleuten der Szene – und doch als einer der gewissenhaftesten Profis. Jeden Tag steht der Ingenieur auf irgendeiner Baustelle, aber jeden Abend trainiert er Sommer wie Winter von sechs bis zehn, anschließend wird er vom Physiotherapeuten des Bob- und Schlittenverbandes in dessen Küche durchgewalkt, weil die Praxis längst geschlossen hat. „Dann fahr’ ich nach Hause, habe mein kleines Nachtessen und noch ein bisschen Fernsehen.“ Man muss wohl so diszipliniert sein, um hinter dem Perfektionisten Langen in einem Zwei- oder Vier-Mann-Bob anschieben zu dürfen – und die Umstellung vom kleinen auf den großen Schlitten problemlos zu schaffen. Zimmermann war nach lediglich einem Weltcup-Rennen in dieser Saison im Zweier eingesprungen, nachdem sich der etatmäßige Bremser und Weltmeister Marco Jacobs kurz vor den Spielen verletzt hatte. „Es tut mir leid für Marco, denn eigentlich hätte er heute die Goldmedaille gewonnen“, sagte Zimmermann.

Als falscher oder unverdienter Olympiasieger fühlt sich der ursprünglich nur als Mitglied des großen Bobs vorgesehene Zimmermann freilich nicht. In dem sieben- bis achtköpfigen Team des Piloten Langen herrscht ein absolutes Leistungsklima. Weshalb Zimmermann sein Verhältnis zum Chef auf den Schlitten zwar als freundschaftlich, aber auch mit einer gewissen Distanz definiert: „Ich habe bestimmt keinen Bonus.“ Die teaminternen Ausscheidungen seien härter als die olympischen Wettbewerbe. „Du rennst um dein Leben, und wenn du da ein Hundertstel schneller bist, bedeutet das praktisch eine Medaille bei den Spielen.“ Am Samstag wollen Langen, Zimmermann und der Rest der Belegschaft von Bob Deutschland I den zweiten Teil ihres Plans erledigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen