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Schatten reißen

Er hat ein Faible für Feinstoffliches: Stefan Thiels Scherenschnitte in der Galerie Koch und Kesslau bewegen sich zwischen Zeichnung und Skulptur, verschmelzen Models mit dem, was sie tragen und machen sie so durchsichtig

In seiner vorjährigen Ausstellung in der Galerie griedervonputtkammer waren in den Arbeiten von Stefan Thiel kaum Menschen zu sehen. Wenn sie in den architektonischen Stadtlandschaften dann doch eher zufällig einmal ins Bild gerieten, kamen sie als Schattenrisse daher. Lieber widmete sich der Berliner einstürzenden Hochhäusern nach dem Erdeben in Kobe oder baulichen Details am Flughafen Tegel.

Obwohl seit vier Jahren filigrane Scherenschnitte produzierend, mogelte sich der 36-Jährige bislang um das Problem der Darstellung von Personen herum, weil er diese nicht einfach als „schwarze Fläche“ darstellen wollte. Doch jetzt sind bei Koch und Kesslau Menschen zu sehen. Nicht welche wie du und ich, sondern Models aus der Modewelt. Sie sind stets auf den gleichen Ausschnitt beschränkt, was formal streng und zugleich wie ein subtiler Kommentar auf deren Auswechselbarkeit wirkt. Denn abgesehen von feinen Nuancen bei Lippen und Augenbrauen, die die Gesichter in männlich und weiblich unterscheidbar machen, sehen alle ziemlich gleich aus.

Fast wie im wahren Model-Leben auch geben den Laufstegschönheiten erst die teuren Klamotten eine Kontur. Form und Bewegung der Körper definieren sich über die Kleidung von Versace, Gucci, Armani oder Moschino. Während die durch dünne Außenlinien bestimmten Gesichter Fläche bleiben, entwickeln die Hemden, Hosen und Kleider ein dreidimensionales Eigenleben. Ein Mannequin trägt einen Hauch von Nichts aus Spitze. Erst ausgeschnitten aus schwarzem Papier ist das Netzkleid wirklich durchsichtig, weil man jetzt auch durchs Model hindurchschauen kann. Eins der Models trägt einen Pullover, der mit Buchstaben bedruckt ist. Erst die geben dem einfarbigen Pulli und damit seinem Träger eine Körperform. Eine Frau im Anzug mit Blumenmuster bringt auf Dauer nur Augenflimmern ein. Ein Anzug mit aufgetragenen Skelett wirkt nun wie ein Röntgenbild des Trägers. Ein Damenpulli mit vielen Pünktchen scheint unendlich Tiefe zu haben, dabei hängt es doch nur an der Wand. Stefan Thiel fotografiert zunächst die Modelle ab, wirft sie per Dia auf das Blatt Schwarzpapier und zeichnet sie nach. Dann beginnt mit einem scharfem Skalpell die eigentliche Ausschneidearbeit. An dem ein mal ein Meter großen Scherenschnitt mit der Netzkleid-Dame saß er sieben Tage. Er hat scheinbar ein Faible für feinstoffliches wie geduldiges Arbeiten. Vor drei Jahren stellte er seine bemerkenswerte Arbeit „Die hundert Tage von Sodom“ bei Koch und Kesslau aus. Vier Jahre lang hatte er den Originaltext von de Sade in Blindenschrift übertragen. Das Ergebnis waren 25 handgebundene Bände.

Von der Brailleschrift führte der Weg zwangsläufig zum jahrhundertealten Scherenschnitt. Statt einer Eins-zu-null- oder einer Ja-und-nein-Teilung definiert Thiel jetzt eben durch Loch und Fläche, per schwarz-weißer Trennung Körper und Raum. Seine Scherenschnitte bewegen sich damit zwischen Zeichnung und Skulptur.

Am interessantesten ist ein Mann, der eigentlich nicht viel zeigt. Er führt eine Badehose vor, trägt Hut und Sonnebrille. Die nackte Haut sieht man quasi nicht, der Körper wird mittels dünner Linien umrissen. Ohne seine spärlichen Utensilien am Leibe würde sich das Model im Scherenschnitt gewissermaßen im Nichts auflösen.

ANDREAS HERGETH

Bis 23. Februar, Mi.–Sa. 15–20 Uhr, Galerie Koch und Kesslau, Weinbergsweg 3, Mitte

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