piwik no script img

Bärte für die fliegenden Milchbubis

Martin Schmitt, Sven Hannawald, Stephan Hocke und Michael Uhrmann gewinnen Gold mit der Mannschaft und wollen sich dafür neckische Gesichtsbehaarung wachsen lassen. Das sollte in den Tagen nach Olympia wohl ihr größtes Problem sein

aus Salt Lake City MARTIN HÄGELE

Auch Martin Schmitt konnte nicht verhindern, dass ihn das Gespenst besuchte. Es kam in den Turm, wo die Springer auf ihren Sprung warten. Es kletterte an ihm hoch, hinein in seinen Kopf, in seine Gedanken. Das Gespenst hörte auf den Namen Masahiko Harada – der richtige Harada ist im Übrigen wieder ein ganz normaler Japaner geworden, der 34-Jährige startete am Montag als Erster für Air Nippon. Psychologen haben ihn wieder hingekriegt und jenes Trauma repariert, das besser als alle anderen Geschichten die tiefe Psychologie des Mannschaftsskispringens offenlegt, das erst seit 14 Jahren olympisch ist. Keine andere Story ist darüber häufiger erzählt worden, speziell im Lager der Deutschen.

„Gratuliere zur Goldmedaille“, hatte Jens Weißflog damals gesagt, bevor er als vorletzter Springer in die Lysgardsbakkene-Arena von Lillehammer hinuntergesegelt war auf 135,5 Meter. Denn Harada, der im Winter 1994 einer der weltbesten Weitenjäger war, brauchte nur noch einen Trainingssatz abzuliefern, sein Team führte ja mit gut 30 Metern vor den Deutschen. Doch dann stürzte der stolze Harada, der sich zur Feier seines größten Triumphes die Nationalflagge mit zwei dicken roten Punkten auf die Wangen gemalt hatte, ab. Die Deutschen gewannen an diesem denkwürdigen Tag ihr erstes Mannschaftsgold, Japan erlebte ein nationales Trauma und einen Harada, bei dem sich Lach- und Heulkrämpfe abwechselten.

Selbst ein absoluter Weltklassemann wie Martin Schmitt kann in den letzten Sekunden des Mannschaftsspringens die Nerven verlieren. Der Schwarzwälder kämpfte gegen das Gespenst, was nicht einfach war; richtig frei wurde er jedenfalls nicht im Kopf. Auch wenn ihm das Gefühl auf den neuen Sprunglatten, zu denen er für den Teamwettbewerb gegriffen hatte, die zuletzt vermisste Stärke vermittelte, wenigstens einen Teil davon.

„Du kannst mit neuen Skiern nicht zehn Meter weiter springen, aber zu null Komma eins Punkten haben sie gereicht“, hat der Schwarzwälder hinterher gesagt, als er nur um 5,5 Zentimeter – auf diese Winzigkeit lässt sich der minimalste Vorsprung in diesem Sport umrechnen – an Haradas Schicksal vorbeigeschrammt war. Auf gar keinen Fall habe er mit solch einer Geschichte leben wollen, gab Schmitt später zu.

Nun hätte man annehmen können, dass die Finnen herumzicken und vielleicht gegen irgendeine Haltungsnote Einspruch einlegen würden, schließlich darf man sich bei diesen Spielen ja auch nachträglich zu Goldmedaillen befördern lassen. Janne Ahonen, der überragende Athlet von Team Suomi, hat über dieses Ansinnen nur gelacht, den Kopf geschüttelt und schon den Anflug eines schlechten Gewissens bei den Deutschen verjagt. „Sie waren besser, auch wenn der Abstand minimal war, und der Sieg war gerecht.“ In Ahonens Bewertung mag auch der sportliche Aspekt mitspielen: dass die DSV-Springer nicht nur eine bislang überragende Saison hingelegt hatten, ihre Topleute aber ausgerechnet bei Olympia gehandicapt waren. Sven Hannawald dokterte an seiner entzündeten Wade herum, die ihn beim Wettkampf durchaus etwas einschränkte; Martin Schmitt musste nicht nur Harada, den bösen japanischen Geist, verdrängen, sondern auch die permanenten Schmerzen in seinem Knie mental auszuschalten versuchen.

Nachdem der Kampf gegen körperliche Pein und psychische Anfechtungen erfolgreich ausge-standen war, durfte das deutsche Springerquartett wieder die mittlerweile von RTL gesteuerte Sport- und Familienserie spielen: Die jungen Skimillionäre, die einfach allen gehören, die ihren Kasten anschalten, und die genauso wie die spleenigen Typen von GZSZ eine eigene, um vieles größere Publikumsschicht bedienen. Nach dem WM-Sieg von Lahti im vergangenen Jahr haben sich die vier tollen Hechte die Haare bunt färben lassen. Weshalb sich Michael Uhrmann, der nach Martin Schmitt Zuverlässigste an diesem Vormittag, in der Pressekonferenz das Mikrofon schnappte und den neuesten Gag ankündigte: „Wir lassen uns jetzt Bärte wachsen, und der Stephan Hocke muss sich halt einen ankleben.“ Wie richtige Männer sehen die schlaksigen Leichtgewichte halt immer noch nicht aus. Doch nicht nur der milchgesichtige Bubi Hocke mit seinen 18 Jahren hat Schwierigkeiten, als Erwachsener durchzugehen, auch Martin Schmitt muss sich noch nicht richtig rasieren. „Wahrscheinlich muss ich das alles bis 2006 in Turin stehen lassen, damit es dann nach Bart aussieht“, unkte Schmitt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen