: Was im Wahlkampf nicht (mehr) interessiert
Als neuer Ministerpräsident hatte Sigmar Gabriel Bildung zu Niedersachsens Schwerpunkt erklärt. Nun findet er das Thema unglücklich und schwierig
HANNOVER taz ■ Wo ein 42-jähriger gelernter Gymnasiallehrer regiert, sollten Schüler und Schulen in guten Händen sein. Und der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel hat in der Tat schon in seiner ersten Regierungserklärung eine „Bildungsoffensive“ zu seinem persönlichen Politik-Schwerpunkt gemacht. Er versprach 1.000 zusätzliche Lehrerstellen, als er dem glücklosen Übergangsregenten Gerhard Glogowski nachfolgte.
Auch danach ließ der fleißige SPD-Politiker bildungspolitisch aufhorchen. Gabriel wollte Haupt- und Realschulen zusammenlegen. Er liebäugelte damit, die Orientierungstufe abzuschaffen, jene eigenständige Schulform Niedersachsens, an deren Ende sich alle Fünft- und Sechstklässler für Gymnasium, Real- oder Hauptschule entscheiden müssen.
Das Thema Schule sollte sogar über die weitere Laufbahn von Sigmar Gabriel mitentscheiden. Der Ministerpräsident wollte die kommende niedersächsische Landtagswahl 2003, bei der er erstmals als Spitzenkandidat antritt, zur Abstimmung über seine Schulpläne machen. Also gab er ein großes Gutachten über die Orientierungstufe in Auftrag. Dann zettelte er eine Bildungsdebatte innerhalb der niedersächsischen SPD an – mit Sonderparteitagen in allen vier niedersächsischen Bezirken. Dieser Prozess soll nun Anfang März mit einem außerordentlichen SPD-Bildungsparteitag auf Landesebene den Höhepunkt und Abschluss finden. Noch vor der Landtagswahl soll der Landtag das niedersächsische Schulgesetz ändern. Doch die Bildungspolitik scheint Gabriel schon wieder entglitten zu sein. Zwar will die SPD auf ihrem Bildungsparteitag am 2. März in Hannover Bildung zur „neuen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts“ erklären. Im Übrigen aber gleicht der Bildungs-Leitantrag einem Flickenteppich sehr unterschiedlicher Maßnahmen.
Die Orientierungsstufe soll nun nicht mehr gänzlich abgeschafft, sondern durch eine Förderstufe ersetzt werden. Aber anstatt die frühe Auslese in verschiedene Schulformen tatsächlich nach hinten zu verschieben, wie es etwa die niedersächsischen Grünen mit ihrer sechsjährigen Grundschule wollen, will Gabriels SPD praktisch eine dreigliedrige Förderstufe: eine für die Hauptschule, eine für die Realschule, eine fürs Gymnasium. Schon nach Klasse vier sollen die Eltern künftig entscheiden, ob ihr Kind auf eine Förderstufe an einem Gymnasium, einer Real- oder Hauptschule geht.
Natürlich versichert Gabriel, künftig werde das Fördern im Mittelpunkt der Klassen fünf und sechs stehen und die Entscheidung über die Schullaufbahn werde erst nach der sechsten Klasse fallen. Dennoch ist seine Reform in Wahrheit ein Schritt zurück ins dreigliedrige Schulsystem. Die Jahrgänge fünf und sechs, so steht es programmatisch im SPD-Leitantrag, sollen künftig an Gesamtschulen, kooperative Haupt- und Realschulen oder Gymnasien angegliedert werden. Um das zu kaschieren, wird es so genannte „Förderverbundkonferenzen“ geben – die dann „die Durchlässigkeit und damit die Möglichkeit der Schulwechsel nach Klasse sechs“ gewährleisten sollen.
Sigmar Gabriel verkompliziert die Schulformen damit weiter. Öffentlich kritisiert er zwar gerne, dass in Ländern wie Bayern mit strikt dreigliedrigem Schulsystem die Abiturientenquote viel zu niedrig sei. Faktisch verhält sich die niedersächsische SPD in der Schulpolitik jedoch kaum anders – man nimmt mit schamhaften Abstrichen am Ende doch Kurs auf Bayern.
Gabriels Pech war der OECD-Schülervergleich namens Pisa. Er hat offen gelegt, dass die Schulen hierzulande die soziale Spaltung vergrößern und nicht verkleinern. Ein Befund, der Gabriels Plänen der Begabtenauslese Marke Bayern entgegensteht. Beim Ministerpräsidenten heißt das nun verschämt, die Pisa-Studie habe die bildungspolitische Debatte ungeheuer beschleunigt.
Und so ist Sigmar Gabriel die Lust an einem Bildungswahlkampf schon wieder vergangen. Er will nach eigenem Bekunden nur noch dafür sorgen, dass Schule und Bildung der SPD im Wahlkampf nicht ans Bein läuft. Vor dem Landtag nannte er die parteiinterne Bildungsdebatte in aller Öffentlichkeit unglücklich und schwierig. Nicht gerade ein zündender Slogan für einen Bildungswahlkampf. JÜRGEN VOGES
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