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Geistiger Sprengstoff

Die Moral untergraben und zum Überlaufen auffordern: Der Erlanger Unternehmer und Privatsammler Klaus Kirchner hat sein Feindflugblätter-Archiv aus dem Zweiten Weltkrieg an die Berliner Staatsbibliothek übergeben

„Berliner, habt ihr’s jetzt begriffen!?“ So manch ein Geschoss, das in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts über die Frontlinien pfiff, enthielt lediglich geistigen Sprengstoff – nämlich Flugblätter. Im Zweiten Weltkrieg konnte die Stückzahl der produzierten Flatterzettel beinahe mit der Munitionsproduktion mithalten – nicht nur der Soldat an der Front, sondern auch die Bevölkerung im Hinterland wurde vom Gegner per Flugzeug, Ballon oder Granate mit „Werbebotschaften“ traktiert, die die Moral untergraben und sogar zum Überlaufen auffordern wollten. Wo ist all das Papier geblieben!?

Vor allem im größten deutschen Feindflugblatt-Archiv des Privatsammlers Klaus Kirchner. Am Mittwoch hat der Erlanger Unternehmer nun sein „Lebenswerk“ an die Berliner Staatsbibliothek übergeben. In der auf die Aufbewahrung loser Blätter spezialisierten Handschriftenabteilung werden, so Stabi-Generaldirektor Antonius Jammers bei der Übergabezeremonie, die als „Einblattdrucke“ bezeichneten ca. 16.000 Flugblätter Kirchners bestens aufgehoben sein. Manche von ihnen stammen aus der Feder prominenter Exilliteraten. So flatterte etwa während des Zweiten Weltkrieges eine von Thomas Manns „Reden an den Feind“ vom Himmel. Aber auch die „Ballade vom heilsamen Schnitt“ von Johannes R. Becher. Oder ein anonymes Flugblatt, dessen Text von Stephan Heym stammt und einen amerikanischen GI unterm Sternenbanner zeigt: „Mein Name ist Joe Jones. Ich lebe gern und achte auch das Leben anderer. Aber wer mich angreift, der muss wissen, dass Joe Jones auch anders kann!“

Nicht von ungefähr erinnern die Flugblätter an Werbegrafiken und Plakatslogans: hier soll eine klare Botschaft an den Mann gebracht werden. Manche sehen auch aus wie Tageszeitungen: „Schlacht im Oderknie“ und „Durchbruch nach Bayern“ meldete etwa die illustrierte Frontpost der US Army Anfang 1945. Das Motto dieser „Luftzeitung“: „Der Starke braucht die Wahrheit nicht zu scheuen!“ Klaus Kirchner hat die Wirkung der alliierten Flugblätter in den letzen Kriegsjahren selbst erlebt. Ihr Besitz war strengstens verboten, sie mussten eigentlich mit der Aufschrift „Feindpropaganda“ versehen und umgehend den Nazibehörden ausgeliefert werden. Doch in seinem Elternhaus wurden sie unter größter Vorsicht gelesen und heiß diskutiert – er selbst trug währenddessen das erste Dutzend seiner späteren Sammlung zusammen.

Als Kirchner nach dem Krieg begann, sich eingehender mit den Propagandaschriften zu beschäftigen, war deren Wert als historische Quelle von der Wissenschaft noch nicht so recht anerkannt. Das hat sich durch die Aktivitäten des leidenschaftlichen Sammlers mittlerweile geändert. Zur Publikation seiner umfangreichen Flugblatt-Bestände gründete der umtriebige Kirchner den „Verlag für zeitgeschichtliche Dokumente und Curiosa“. Auch im Internet ist Kirchner präsent: unter http://propaganda.netdiscounter.de kann man sich nicht nur einen virtuellen Eindruck der nun im Gebäude der alten Staatsbibliothek Unter den Linden lagernden Flugblätter verschaffen, sondern sogar Originale käuflich erwerben.

ANSGAR WARNER

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