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„Unerhörte Missachtung“

Handelskammer und Schulsenator verweigern Debatte um Pisa-Ergebnisse. Kern der Studie: Chancengleichheit und Leistung gehören zusammen  ■ Von Kaija Kutter

Spannend wie ein Krimi, so befand GEW-Chefin Anna Ammonn, wären die vergangenen Tage für sie gewesen. Am Freitagnachmittag bekam Staatsrat Hermann Lange stehenden Applaus von mehreren hundert Behördenmitarbeitern, als er bei seiner Verabschiedung sagte, besonders verletzt habe ihn der Vorwurf der Illoyalität. Und im Bezug auf die eilig verordnete Schulzeitverkürzung: „Illoyal wäre es, Risiken zu verheimlichen.“

Am Freitagabend dann konnte man im Curio-Haus auf der GEW-Tagung „Pisa – was ist drin?“ von Andreas Schleicher, dem Pisa-Koordinator für Deutschland, persönlich erfahren, was Kern der vielzitierten Studie ist: „Chancengleichheit und Leistung gehören zusammen.“ Kein Land, so der Experte, stehe gut da, welches Leistung auf Kosten von Chancengleichheit realisiere. Und: Leistungsdruck wirkt sich negativ aus.

Gut abschneiden würden Länder wie Finnland und Schweden, die, so Schleicher, „das Lernen in den Vordergrund stellen und sich nicht damit befassen, Schüler in Strukturen einzusortieren“. So verzichte Finnland auf Selektion bis Klasse 9. „Wir aber glauben, nach 4 Jahren genau zu wissen, was für die Kinder gut ist. Das gibt es in den meis-ten anderen Staaten nicht.“ Die Folge: In kaum einem Land hängt Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie bei uns.

Die GEW hatte zu ihrer Tagung auch Schulsenator Rudolf Lange eingeladen. Doch der hatte kurz-fristig abgesagt und den Schulrat Rainer Schmitz geschickt. Für Gastgeberin Ammonn eine „unerhörte Missachtung“. Dies vervollständige das Bild eines „komplett ignoranten Schulpolitikers, der aller Welt unbeirrt seine wenig qualifizierten Gedanken über Pisa darstellt und kneift, wenn er einmal die Möglichkeit zum kontroversen Gedankenaustausch hat“.

Denn der Ex-Admiral hat in seiner kurzen Amtszeit schon eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die die Auslese erhöhen und somit Schleichers Befunden entgegen stehen. „Die Resultate von Pisa lassen sich nicht beliebig verwenden“, warnte denn auch die Hamburger Bildungsforscherin Ingrid Gogolin. „Pisa gibt nichts her für die Schulzeitverkürzung. Es gibt nichts her für frühes Einschulen oder Selektieren. Und es gibt nichts her für die frühe Sanktion durch Zensuren.“

Wie berichtet, will der neue Senat Zensuren in der Grundschule wieder vorschreiben und schon nach Klasse fünf eine Entscheidung über den Verbleib von Kindern auf dem Gymnasium fällen. Auch die Schulzeitverkürzung, die zu mehr Stoff in Klasse 5 bis 9 führen wird, gilt als Verschärfung der Auslese. Erst vorige Woche wurde bekannt, dass Förder- und Tei-lungsstunden künftig dem Sport gewidmet werden.

Landesschulrat Schmitz' Verteidigungsrede auf der abschließenden Podiumsdiskussion war keine. Er warnte recht allgemein davor, voreilige Schlüsse aus Pisa zu ziehen, und forderte, den Lehrern mehr „diagnostische Hilfestellungen“ zu geben: „Der Slogan, nur durch Wiegen wird die Sau nicht fetter, ist unprofessionell.“ Immerhin räumte der Beamte ein, dass die Schulzeitverkürzung für ihn „keine kausale Folge aus Pisa“ sei. Auch hätte er persönlich es gut gefunden, wenn Deutschland in den 70ern die Einheitschule eingeführt hätte: „Sie wollen mir aber nicht erzählen, dass Sie da heute eine Mehrheit für bekommen.“

Die Vorstellung, dass Lernen in „homogenen Gruppen erfolgen muss“, sei in Deutschland eine kulturelle Grundüberzeugung, sagte auch GEW-Bundeschefin Marianne Demmer. Dadurch würde schwächeren Schülern ein akzeptables Lernumfeld verweigert: „Wir sagen den Hauptschülern, die aus 20 verschiedenen Nationen kommen: wenn ihr alle auf einem Haufen seid, lernt ihr klasse Deutsch.“ Pisa biete dennoch die Chance, die Schulstruktur zu thematisieren: „Wir müssen fragen, welche Deformation richtet diese Struktur in den Köpfen der Lehrer an.“

Nicht das dreigliedrige Schulsys-tem, der „Leistungsbegriff“ müsse auf den Prüfstand, sagte Handelskammer-Vertreter Hubert Grimm, der sich der übrigen Debatte mit dem Satz „Schule muss organisiert sein wie Wirtschaft. Das ist unsere Antwort auf Pisa“ verweigerte und Visitenkarten an die Zuhörer verteilte. „Wenn Sie daran mitarbeiten wollen, lade ich Sie zu mir ein.“

„Wenn Sie Schule wie Wirtschaft organisieren wollen, wäre es sinnvoll, die Forschung darüber zur Kenntnis nehmen, was dann geschieht“, konterte Ingrid Gogolin. Evaluationen ökonomisierter Bildungssysteme zeigten, dass eben die Förderung Benachteiligter dabei auf der Strecke bleibe.

Wenig überraschend war der Auftritt der Handelskammer für den DGB-Bildungsexperten Peter Deutschland. „Ich habe den Eindruck, der Senator ist der Durchlauferhitzer der Handelskammer.“ Wenn man neuerdings wissen wolle, welchen Schritt der Senat als nächstes plane, müsse man nur deren Schriften aufmerksam lesen.

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