piwik no script img

Jüdische Geschichte ist mehr als Holocaust

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden bedauert, wie wenig Schüler über die 2.000-jährige jüdische Kultur wissen

DÜSSELDORF taz ■ Kaum ein Schüler weiß das: Die jüdische Kultur in Deutschland ist zweitausend Jahre alt. Und beschränkt sich nicht etwa auf den Holocaust. Was bei vielen nicht mehr als ein bedauerndes Achselzucken hervorruft, erschreckt den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Paul Spiegel ist ratlos angesichts der großen Unkenntnis hiesiger Schüler über jüdisches Leben – und ihrer Lehrer. In Schulbüchern und Lehrplänen fehle wichtiges Geschichtswissen, erläuterte er bei der gerade zu Ende gegangenen Bildungsmesse in Köln. Etwa über die Ghettos im Mittelalter. Oder die blühende jüdische Kultur im 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Juden aber reduziert sich im Schulunterricht auf die Jahre zwischen 1933 und 1945.

Die Nazizeit und die Ermordung der Juden gehören für den 1945 aus dem belgischen Versteck nach Deutschland Zurückgekehrten selbstverständlich zur Geschichte der Juden in Deutschland. Spiegel leitet daraus eine besondere Verantwortung junger Deutscher ab. Diese sei zwar „ohne Wenn und Aber weder schuldig noch verantwortlich für die Nazizeit“. Sie aber sei es, die für die Zukunft und die Gegenwart Verantwortung trage – damit Jugendliche auf braune Rattenfängerei nicht hereinfallen. Doch der Holocaust ist an diesem Tag gar nicht das eigentliche Thema Spiegels. Ihm ist es wichtig, dass gerade deswegen 2.000 Jahre Judentum im Unterricht nicht ausgeblendet werden.

Dass jüdische Kultur im Unterricht nicht behandelt wird, so meint Spiegel, liegt heute nicht mehr wie in den 50er-Jahren bei den übernommenen ehemaligen Nazi-Lehrern, am Antisemitismus. Die jetzige Lehrergeneration vermeidet vielmehr aus dem Gefühl der Beklommenheit und Befangenheit, über das Thema zu reden. Damit berührte Spiegel die Befindlichkeit vieler anwesender Lehrer. In der Diskussion wurde ihre Hilflosigkeit deutlich: woher Informationen bekommen, fragten sie. Von jüdischen Gemeinden? Wie mit Schülern darüber reden? Wohin mit der Angst, Falsches zu sagen?

Paul Spiegel forderte auf: „Stellen Sie Ihre Fragen zum Judentum – ohne Tabus!“ Und bekam eine Probe dessen, was dann – in der Regel – kommt: „Herr Spiegel, was sage ich, wenn die Schüler fragen, warum das israelische Militär auf Steine werfende palästinensische Kinder schießt?“

Curricula ohne Juden

Damit allein ist kein Unterricht zu bestreiten. In Schulbüchern fehlen Informationen. Curricula sehen jüdische Kultur nicht vor. Und die Kultusbeamten sind untätig: „Sie bauen weder Fortbildungsprogramme noch den Lehrer- und Jugendaustausch mit Israel aus“, ärgert sich der Zentralratspräsident. Gerade die Begegnung von Nichtjuden und Juden ist notwendig, um das Gefühl der Befangenheit abzubauen.

Schulbücher müssen um die jüdische Geschichte ergänzt werden, findet Spiegel. Etwa um den Erhalt der Bürgerrechte ab 1848 und das reiche kulturelle Leben, aus dem bedeutende Naturwissenschaftler, Philosophen und Künstler hervorgingen. Auch dürfe der Patriotismus der Juden im Ersten Weltkrieg aus Liebe zu Deutschland nicht fehlen. „Mein Großvater“, erzählt der 64- Jährige, „kam mit Auszeichnungen aus dem Krieg zurück.“ Danach dauerte es nur wenige Jahre – und die jüdisch-deutschen Patrioten mussten sich verfolgen, demütigen und ermorden lassen.

Wie also soll man über das Judentum sprechen? Damit beginnen, die Beklommenheit zu überwinden, meint Spiegel: Die Befangenheit bestehe auf beiden Seiten, bei Nichtjuden und Juden. Eine Normalisierung werde noch Generationen dauern. Optimistisch entwarf er seine Zukunftsvision in einem Dialog zwischen SchülerInnen. Ein Schüler berichtet: „Ein Neuer kommt in die Klasse. Der ist ein Jude.“ Die anderen antworten: „Na und?“ ISABELLE SIEMES

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen