: Die Strippenzieher
Mit Shakespeares „Othello“ begeht das Berliner Marionettentheater sein 15-jähriges Jubiläum. Elegant geht der Drei-Kilo-Holz-Held zu Boden
von HENNING KRAUDZUN
Othello ist kein Leichtgewicht. Die wuchtige Gestalt des Mohren muss sich dennoch leichtfüßig über die Bühne bewegen. Dort kämpft, liebt und richtet er, wird vom böswilligen Jago irregeführt und verzehrt sich vor Eifersucht nach seiner schönen Frau, Desdemona. Am Ende der Tragödie wählt er den Freitod. Dann sinkt Othello zu Boden, eine klobige Marionette aus Lindenholz,drei Kilogramm schwer.
Während der hölzerne Held vor den Zuschauern seinen Liebeskummer herausheulen darf, muß sein Alter Ego, Wolfgang Reihing, den eigenen Schmerz still ertragen. Dem Puppenspieler bereitet der zweistündige Auftritt des shakespearschen Protagonisten üble Nackenschmerzen. Jede Geste der schweren Puppe auf der Bühne erfordert wahre Artistik hinter den Kulissen. Nach vorne gebeugt muss Reihing die Strippen ziehen und seinen Arm dabei nahezu verrenken. Die Leichtigkeit von Othellos Drama kostet Kraft und erfordert systematische Aufwärmübungen vor jeder Vorstellung.
Wie das alles geht hat Reihing nie jemand gezeigt. Er und die vier anderen Puppenspieler der Berliner Marionettenbühne haben als Autodidakten begonnen. Heute können sie vom Schauspiel mit den Holzfiguren leben. Mit ,,Othello“ begeht die Bühne derzeit ihr 15-jähriges Jubiläum. Neuartig an ihrem Konzept ist, dass sie mit bislang sechs Stücken als literarisches Marionettentheater auch wieder Erwachsene in die Sesselreihen gelockt haben. 1988 feierte das anspruchsvolle Ensemble mit Goethes „Faust I“ Premiere. Das Stück wurde damals sogar von der Theaterkritik ernst genommen. Hernach inszenierte die Marionettenbühne unter anderem Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“, Otfried Preußlers „Krabat“ und Paul Osborns Komödie „Der Tod im Apfelbaum“.
Zwei bis drei Jahre Vorbereitungszeit müsse man für jedes neue Stück schon einplanen, sagt Reihing. Erst werden die Puppen skizziert, dann selber geschnitzt, zeitgleich arbeitet das Ensemble die Textstudien aus. Nachdem die Requisiten gebaut sind, beginnt die Probenzeit und drei Monate harte Arbeit. ,,Dabei unterscheidet sich die Regiearbeit gar nicht so sehr vom richtigen Theater“, sagt Reihing. Einen professionellen Regisseur könne man sich jedoch nur für wenige Wochen leisten. Für „Othello“ wurde sogar ein künstlerischen Berater gebraucht. Mehr als 20.000 Euro wurde für die Low- Budget- Produktion jedenfalls nicht eingeplant.
„Bei der Umsetzung von Shakespeare verzweifelt man ständig, manche Szenen sind einfach nicht zu verstehen.“, sagt Stephan Schlafke, der den intriganten Fähnrich Jago über die Bühne schweben und kriechen lässt. Zusammen mit Reihing war er Mitbegründer der Marionettenbühne. “Man muss solange an dem Stück feilen, bis das gesamte Ensemble zufrieden ist“, betont er. „Denn Marionetten wohnt eine Magie inne, die das Publikum spüren soll“, sagt Schlafke. Wenn es gelänge, die Zuschauer auf diese traditionelle Weise zu verzaubern, dann sei das Erleben weitaus intensiver als im Kino, ist Schlafke überzeugt
Schon als Kind begeisterte er sich für das Puppenspiel. Bislang hat das bei ihm nicht nachgelassen. Zuerst eignete er sich „das grobe Handwerk“ an. Später kamen die künstlerischen Feinheiten hinzu. Den Gesangs- und Schauspielunterricht, der für ein gutes Figurentheater unentbehrlich ist, hat er aus eigener Tasche bezahlt. „Das normale Berufsleben lief über Jahre nebenher, allein die Marionetten faszinierten dauerhaft“, erzählt Schlafke. Viel Zeit und Fingerspitzengefühlbraucht es, bis sich die hölzernen Gestalten elegant und lebensecht über die Bühne bewegen. So ist vor allen Jago eine echte Herausforderung: seine fließenden und vor allem schnellen Bewegungen.
Bei Reihing sah die Vervollkommnung kaum anders aus. War er mit dem Leben der Figuren unzufrieden, mußte er zunächst an sich selbst arbeiten. Atemübungen, Stimmtraining und Sprechtherapie – einzeln und in der Gruppe: „Das war schon seltsam, hat aber viel gebracht“, betont Reihing. Für ihn war die Marionettenbühne eine Nische, um irgendwann selber professionell Theater spielen zu können. „Hier kann ich letztlich alle Abläufe selber mitbestimmen.“ Viel motivierender sei das, als jeden Tag selber auf der Bühne zu stehen und sich von Regisseuren und Dramaturgen kritisieren zu lassen.
Kritisieren können sich die Puppenpieler eigentlich nur untereinander. denn nur die Strippenzieher selbst, weniger die Zuschauer, können die schauspielerischen Leistungen der Marionetten beurteilen. Ohne Missgeschick auszukommen, erfordert viel Übung im Umgang mit dem Spielkreuz. Es ist eine streng durchkomponierte Aktion. Fünf Puppenspieler steuern abwechselnd die insgesamt neun „Othello“-Charaktere. Je nach Szene stehen drei bis vier von ihnen nebeneinander auf dem kleinen Podium und treten sich dabei fast auf die Füße. Wer gerade keine Marionette an den Fäden führt, muss das Licht oder den Vorhang bedienen.
Auch wenn man wie Reihing und Schlafke ein Vierteljahrhundert Bühnenerfahrung mit Puppen kann, bleiben Unfälle nicht aus. Wenn mal ein Faden reißt, hinkt der Fuß oder lässt sich der Arm nicht bewegen. Dann heißt es: Weiterspielen, nicht ins Stottern kommen und synchron dazu überlegen, wie sich die folgenden Bewegungen improvisieren lassen. „Dann steigt das Adrenalin“ meint Schlafke. Den Faden darf keiner verlieren, sondern muss ihn flott wieder an die Puppe knoten.
Im Ensemble selber darf ein Eifersuchtsdrama, wie es „Othello“ beschreibt, nicht ausbrechen. Dass man der Holzfigur so viel Leben einhaucht, bis man sich mit ihr identifiziert, gibt es ohnehin nur im Film. Jeder Puppenspieler weiß, dass es Solostars nicht gibt. Und nach jeder Aufführung bleiben vor allem die Rückenschmerzen.
,,Othello“ im Café Theater Schalotte, Behaimstraße 22, Berlin-Charlottenburg. Letztes Aufführungen am 1., 2. und 3. März. Reservierungen unter Tel: 341 14 85.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen