: Mit ein bisschen Hilfe vom Mailserver
Lebensbeichten im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit: Der Schriftsteller Thommie Bayer bemüht sich, seine Dialoge der Wirklichkeit des Internets abzulauschen. Ob das eine gute Idee war? Aber sonst geht es in „Das Aquarium“ recht turbulent zu
von FRANK SCHÄFER
Ein Chatroman ist ein Oxymoron, contradictio in adjecto, ein schwarzer Schimmel mithin. Denn das eine ist Literatur. Und das andere ist Sülze. Und wenn das schnöde, dumpfe Ad-hoc-Gebrabbel im Netz tatsächlich einmal literarische Substanz bekäme – mir ist dieser Fall noch nicht untergekommen, kann aber an mir liegen –, dann wäre es wohl auch kein richtiger, also realistischer Chat mehr. Das soll jetzt übrigens gar keine kulturkritische Invektive werden – wer chatten mag, soll chatten, aber ein beschriftetes Einmachglas ist ja auch noch keine Literatur. Und schon gar nicht geht es mir um eine Denunziation des guten alten Naturalismus. Selbstredend kann ein Stück kruder Realität poetische Qualitäten haben – aber auch der forcierteste Naturalismus braucht ja noch so etwas wie einen ästhetischen Willen, zum einen bei der Auswahl des zu gestaltenden Wirklichkeitsausschnitts, vor allem aber bei dessen Transformation in Sprache. Im Chat hingegen ist ja bereits alles Sprache, eine inhaltlich absolut funktionalisierte und je nach Qualität des Chatrooms lexikalisch und grammatikalisch mal mehr, mal weniger ausgedünnte Schriftsprache. Der Autor, der dieses Phänomen dokumentieren will, kann das nur kopieren und den Leser damit langweilen. Wenn er es aber literarisiert, ästhetisch aufschmückt, geht das sofort auf Kosten der Wahrscheinlichkeit. Hier haben wir das Dilemma, in dem zumindest jede realistische Literatur steckt, wenn sie sich diese Kommunikationsform anverwandelt. Satire und Groteske hätten es da einfacher …
Thommie Bayer nun bemüht sich redlich, die Netzdialoge der Wirklichkeit abgelauscht klingen zu lassen – und das ist genau das Problem seines neuen Romans „Das Aquarium“:
„June: Es ist toll, zusammen Musik zu hören. Es fühlt sich an.
Barry: Wie fühlt sich’s an?
June: Intim oder so. Ich weiß nicht genau. Es ist toll. Ich fühl mich dir nahe, obwohl du fast nur ein Fantasieprodukt von mir bist.
Barry: Vielleicht deswegen.
June: Nein. Wegen der Musik.
Barry: Danke Joni [sie hören gerade „Taming The Tiger“ von Joni Mitchell, F.S.]
June: Was hören wir jetzt?
Barry: Ich hätte Lust, die neue Paul Simon anzuhören. Kenn sie auch noch nicht. Sollen wir?
June: Gut.“
So oder ähnlich geht das seitenlang … Will man das lesen? Natürlich ist das Rollenprosa, aber auf die Dauer eben doch ennuyant. Und wenn die beiden Protagonisten sich von ihren mehr oder weniger tragischen Liebesgeschichten erzählen, in längeren E-Mail-Anhängen, dann sind die narrativen Schwächen zwar ebenfalls legitimiert, aber das macht es für den Leser ja nicht leichter. Und wenn dann auch noch Barry, der von sich selbst sagt, er hasse den Phrasendrusch wie sonst nix auf der Welt, nach Junes Lebensbeichte nur enthusiasmiert in die Tasten klimpern kann, dann versteht unsereins die Welt nicht mehr.
Barry ja auch nicht! Der wohlhabende Studiobesitzer steigt nach einem Unfall, bei dem er schwer verletzt wird und seine große Liebe ums Leben kommt, aus dem Musikgeschäft aus, um …, ja, was eigentlich? Um sich vor allem wohl die viele freie Zeit im Internet zu vertreiben. In die Wohnung gegenüber, die von ihm aus gut einsehbar ist (das „Aquarium“!), zieht eine hübsche Rollstuhlfahrerin. June! Die bemerkt nach einer Weile den Voyeur, gibt ihre Mail-Adresse preis, und so entwickelt sich eine virtuelle Freundschaft, später Liebesbeziehung. Auch sie hat gerade eine etwas verdrehte, moderat sadomasochistische Beziehung hinter sich mit einem Tänzer, aus dessen Einflussbereich sie sich nur gewaltsam lösen zu können glaubt. Sie provoziert einen Unfall, bei dem ihr Lover stirbt und sie querschnittsgelähmt davonkommt, so erzählt sie es jedenfalls Barry. Dann aber sieht er sie zufällig auf einer Party tanzen, und ihr Schwindel fliegt auf. Weder ist sie gelähmt noch ihr Exliebhaber tot, vielmehr glaubt sie, ihn bei jenem Autounfall zum Krüppel gefahren zu haben, hat ein schlechtes Gewissen deshalb und versucht, sich auf dessen Entlassung und Pflege vorzubereiten, indem sie die Versehrte spielt. Aber auch ihr Ex hat sie angelogen, wie sich am Ende herausstellt; er spielt nur den Behinderten, um sich an June zu rächen, vor allem aber um die Entschädigungssumme der Versicherung zu kassieren.
Die Story ist pure Kolportage! Aber man ist froh darüber, weil sie Thommie Bayer von der fixen Chatidee ablenkt und zum herkömmlichen Erzählen nötigt. Das kann der nämlich durchaus und sogar ziemlich schnell, wie er schon in mehreren Romanen bewiesen hat. Und schließlich ist da ja auch noch die Erotik. Zwar sind auch die softpornografischen Exkurse sprachlich nicht von großem Belang – wie auch, wenn der Autor ausgerechnet zwei schriftstellernde Dilettanten dieses heikle Feld beackern lässt? –, aber man liest das ja doch immer ganz gern.
Thommie Bayer: „Das Aquarium“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 336 Seiten, 19,90 €
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