Mathematiker der Macht

von MICHAEL BARTSCH

Wie der neue „Geenich von Saggsen“ hat er noch nie ausgesehen. Anders als der nun im Undank abdankende Monarch Kurt Biedenkopf, der selbst sitzend seine 1,64 Meter Körpergröße um einige Zentimeter zu recken suchte, sieht man den ebenfalls nur mittelgroßen Georg Milbradt stets irgendwie lümmeln. Ob es der Tisch der Landespressekonferenz oder der einer Gaststube ist – vornübergeneigt und leicht geduckt, die Ellenbogen auf der Tischplatte, so begegnet man dem voraussichtlichen Thronerben nach wie vor am häufigsten. Dann brabbelt er meistens vor sich hin, selten ist ein Augenaufschlag zu erhaschen, kaum ein offener Blick in die Runde. Erst am Rednerpult tritt gelegentlich seine cholerische Ader zutage.

Nicht nur Kurt Biedenkopfs Verfolgungswahn, auch die Person seines einstigen Duzfreundes Georg Milbradt spaltet die sächsische CDU. So sehr viele Unionsfreunde das Ende des Biedenkopf’schen Patriarchats begrüßen, so schmerzhaft vermissen sie am Kandidaten Milbradt jeglichen charismatischen Zug. „Milbradt kann nicht auf die Leute zugehen“, bemerkte sein Vorgänger im Amt des CDU-Landeschefs, der Biedenkopf-Vertraute Fritz Hähle einmal. „Ich versuche, die Leute über den Kopf zu erreichen“, gibt der Angesprochene zu. Die Bedeutung von Gefühlen gerade in der Politik kennt auch er, aber: „Ich eigne mich nicht zum Schauspieler.“

Ein Schauspieler aus Berechnung

Das mag für sein eher tapsiges Auftreten bei repräsentativen Anlässen stimmen. Ebenso für Bierrunden, zu deren Erheiterung er mit trockenen Einwürfen beitragen und dabei ein geradezu knabenhaftes Lächeln aufsetzen kann. Ausgerechnet Milbradt trat jedoch wie der beste aller Freistaatsschauspieler auf, nachdem ihn Biedenkopf Anfang vergangenen Jahres als Finanzminister geschasst hatte. Kein Kontra gegenüber seinem allerungnädigsten Herrn, kein ätzendes Wort. Wohl berechnend, dass ein im Ruf des Königsmörders stehender Nachfolgekandidat Sympathien in der eigenen CDU verspielen würde. Stattdessen ein beharrliches, diszipliniertes und scheinbar emotionsloses Werben an der Parteibasis, unbeirrt den Machtwechsel an der Spitze im Sinne der Machterhaltung der Partei im Blick. Die Strategie scheint aufzugehen: Wenn die CDU am kommenden Sonnabend einen Nachfolger für Biedenkopf kürt, hat Milbradt die besten Chancen – und das gegen den erklärten Willen des amtierenden Ministerpräsidenten.

Die Leutseligkeit, mit der er sich um die Basis bemühte, überzeugt im persönlichen Gespräch nicht ganz. Da wirkt sie wenig routiniert, vor allem wenn es um Persönliches geht. Das wohlwollende Phlegma schwindet erst, wenn wirtschaftliche Themen zur Sprache kommen. Da ist der Professor für Finanzwissenschaft in seinem Element. Ja, er sei schon ein rationaler Typ und überwiegend kopfgesteuert, bekennt er, wenn auch nicht ausschließlich.

Es gibt tatsächlich Momente, in denen er nicht nur der kühle Rechner ist. So wie am 15. September 2001 auf dem CDU-Landesparteitag in Glauchau. An diesem Tag findet die Wahl zum Landesvorsitzenden statt, eine Vorentscheidung im Rennen um die Ministerpräsidenten-Nachfolge. Als ihn die Delegierten gegen den Willen Biedenkopfs mit deutlicher Mehrheit wählen, da sitzt er wie bedeppert auf seinem Delegiertenstuhl und drückt eine Träne weg.

Am Sonnabend nun ist wieder Landesparteitag, und gegen Milbradt tritt nur der Zwickauer Oberbürgermeister Dietmar Vettermann an. Ob die Landtagsfraktion am 18. April der Empfehlung des Parteitags folgen wird, steht allerdings dahin. Eine Fixierung wie auf Kurt Biedenkopf und Landesschwiegermutter Ingrid lehnt Kandidat Milbradt jedenfalls für sich ab. In Führungfunktionen habe er sich nie gedrängt, das habe sich „automatisch ergeben.“ Auch das angestrebte Amt ordnet er einer „Ziel-Mittel-Rationalität“ unter.

Die Geschichte, wie Georg Milbradt bis an die Stufen zur sächsischen Staatskanzlei gelangte, ist eigentlich die eines Tandems und untrennbar mit Kurt Biedenkopf verbunden. Der holte 1990 den damals 45-jährigen Finanzdezernenten der Stadt Münster als Finanzminister nach Dresden. „Ich war damals in einem Alter, wo man Bäume noch verpflanzen kann.“ Seine aus dem heutigen polnischen Poznan stammenden bäuerlichen Eltern hatten eine solche Verpflanzung kurz vor seiner Geburt hinter sich. Im Sauerland wurde 1945 das Flüchtlingskind geboren und wuchs in Dortmund auf. Eine zweite Heimat fand er am Studienort Münster. Nach hervorragenden Abschlüssen in den Fächern Volkswirtschaft, Jura und Mathematik stieg Milbradt zum Professor an der Universität Münster auf. Bei einem so politikverwandten Fach habe es nahe gelegen, auch politische Verantwortung zu übernehmen, sagt er. Das tat er vor seinem Ruf nach Dresden schon als Stadtkämmerer in Münster.

Eine „Hornhaut um die Seele“ brauche man für das unpopuläre Amt des Finanzministers, hat Milbradt einmal gesagt. Die besaß er offensichtlich. Der Minister vollbrachte das Kunststück, trotz seines Rufes als „Kaputtsparer“ bei Bildung, Kultur oder Sozialausgaben einen gewissen Respekt zu erlangen. Selbst die PDS zollte ihm für die regressive Verschuldungspolitik Respekt. Als Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft der Länder erwarb er sich wegen der Mischung aus Unerbittlichkeit und Kompetenz bundesweit Achtung. „Hart, aber fair“ wurde er geschätzt, „eisern, aber einfallslos“ von der Opposition kritisiert. Wie sich seit einem Jahr zeigt, auch von der eigenen Partei. Ressentiments ob seiner West-Herkunft brachen im vergangenen Jahr auf, als der CDU-Kreisverband Vogtland von ungeeigneten „geborenen Kapitalisten“ sprach. Doch deartige Anwürfe blieben ohne große Resonanz. Immerhin lebt Milbradt schon über zehn Jahre in Sachsen, mit Frau und zwei Söhnen ist er längst in ein Häuschen auf den Elbtalhängen gezogen und gedenkt dort auch zu bleiben.

Im Tandem mit Biedenkopf

Jahrelang schien das Tandem Biedenkopf/Milbradt einander ideal zu ergänzen. Der eine brachte die Finanzen in Ordnung, während der andere die Landesvaterfigur gab und immer mal auf der bundespolitischen Bühne auftrat. Erst eine Haushaltklausur des Kabinetts im Juni 2000 offenbarte einen Eklat. War der Finanzminister zu mächtig geworden? Die Minister für Soziales und Wissenschaft verweigerten ihre Zustimmung zu drastischen Einschnitten bei Familienleistungen und Hochschulen. Noch einmal rumste es Ende 2000 im Kabinett, als Milbradt eine außerplanmäßige Ausgabe von 363 Millionen Mark zum Kauf von Landesbank-Anteilen auf den Tisch knallte. Biedenkopf witterte außerdem Intrigen und eine verfrühte Diskussion um seine Nachfolge und entließ Milbradt vier Wochen später. Einen „miserablen Politiker“ nannte der Ministerpräsident seinen Parteifreund, und die Spaltung der sächsischen CDU nahm ihren Lauf.

Der Vertrauensbruch könnte schon vor der Landtagswahl 1994 begonnen haben, als Biedenkopf nur für eine absolute Regierungsmehrheit zur Verfügung stehen wollte und der Finanzminister heimlich mit SPD-Chef Karl-Heinz Kunckel über eine große Koalition verhandelt haben soll. Zerwürfnisse dieser Art würden „hineingeheimnist“, dementiert Milbradt. Nach wie vor trage er 95 Prozent der Biedenkopf’schen Politik mit. Doch die andere Seite bestätigt inoffiziell schon, dass es einen Grunddissens über Gesellschaftsmodelle und Ausgabenprioritäten gibt. Nicht von ungefähr hatte sich der Theoretiker Biedenkopf auf dem Glauchauer Parteitag noch mal über kulturelle und soziale Bindekräfte verbreitert. „Wenn wir eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung erreichen, kommt alles andere von allein“, meint hingegen Kontrahent Milbradt.

Inszenierung des worst case

Über Religion, Kultur, Kunst, Literatur, Bildung und Wissenschaft sind ihm nur Allgemeinplätze zu entlocken. Diese Güter stehen nicht im Rang von Lebensbedürfnissen, sondern dienen bestenfalls als weiche Standortfaktoren. Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer sprach in einem spektakulären Zeitungsbeitrag deshalb nur aus, was viele weniger technokratisch veranlagte Sachsen denken: „Dass er Ministerpräsident von Sachsen wird, kann ich weder ihm noch uns wünschen.“ Und statt eines „Systems Biedenkopf“ habe es nur ein „System Milbradt“, eine permanente Inszenierung des finanziellen „worst case“ gegeben.

Ein Image, das Milbradt gern los wäre, zumal unter Sachsen, die nicht nur die dichteste Kulturlandschaft Deutschlands schätzen, sondern auch ein ziemlich irrationales Verhältnis zu ihren Herrschern haben. Auch der designierte Ersatzkönig lobt fleißig die Traditionen des Völkchens, bleibt aber bei seiner Logik und bei seinen Wirtschaftsprioritäten: „Menschen wandern nicht wegen eines zu schmalen Kulturangebots oder zu teurer Kindergärten ab, sondern wegen fehlender Arbeitsplätze.“ Ein Aufholprozess Ost habe noch Chancen.

Mit Fairnessappellen nach außen und kleinen Ködern hat Milbradt nun auch um die Zustimmung des Biedenkopf-Flügels in der Landtagsfraktion geworben. Dass sich die jahrelang als Biedenkopf-Wahlverein gerierende CDU nun wieder ängstlich hinter einem starken Mann verstecke, will er nicht gelten lassen. Dabei weiß jeder, dass es um hübsche grüne Sessel im Landtag geht. Ist Milbradt dafür ebenso ein Garant wie Biedenkopf? Jedenfalls wolle er nicht bis zum 72. Lebensjahr im Amt bleiben, kündigt er an. Ebenso gewiss sei, dass die praktizierende Statistik-Professorin Angelika Meeth-Milbradt keinerlei landesmütterliche Ambitionen hege. Vielleicht bringt das Stimmen.