Die feinen Unterschiede

Viele neue Rockbands haben im Augenblick die Gesamtpoplage in den Staaten und Europa fest im Griff. Während die einen Rock stumpf auf sich selbst anwenden und sich auch durch noch so schlaue Einwände nicht beirren lassen, gehen die anderen ganz spielerisch mit der Rock-’n’-Roll-Geschichte um

Auch 2002: Viel Pathos, viel Schweinegitarren, viel Leiden an der Welt Auch in Zukunft: Unterschiede zwischen cool, uncool und dem Gefühl

von GERRIT BARTELS

Es sind traurige Geschichten, die man seit einiger Zeit in fast jeder Ausgabe des amerikanischen Rolling Stone nachlesen kann. Geschichten von Kindern, die sich von früh an auf der Straße durchschlagen mussten; die ohne Mutter oder ohne Vater aufwuchsen und die Geborgenheit einer intakten Familie nie kennen lernen konnten; die von Stiefvätern gezwungen wurden, unter der Androhung von Prügel Bibelverse abzuschreiben und auswendig zu lernen.

Nun ist der Rolling Stone kein Fachblatt für Sozialarbeiter oder Kinderpsychologen, sondern eines der amtlichen Musikmagazine der USA. Weshalb diese Geschichten von zerrütteten Familien und jugendlichem Überlebenskampf auch Kapitel enthalten, die von Ruhm und Erfolg handeln. Stammen sie doch von Musikern, die es mit ihren Bands auf das Cover des Magazins geschafft haben: Linkin Park, Limp Bizkit, Slipknot, Staind oder Creed. Was diese Bands außer ihren Biografien verbindet: Sie spielen Rockmusik, die man in ihrer heftigeren Spielart „New Metal“ nennt, in ihrer eher traditionelleren, schwerfälligen Spielart „Modern Rock“ oder „New Grunge“. Mit dieser Musik haben die neuen Rocker die Gesamtpoplage in den USA (und zunehmend auch Europa) fest im Griff. Sie verkaufen nicht nur zusammen, sondern fast jede einzelne mehr Alben als Shaggy oder Britney Spears, als die Boygroup N’Sync oder 11.-9.-Sirene Enya.

Die Präfixe „neo“, „modern“ oder auch „nu“ sind dabei nur eine Mogelpackung. Sie stehen bei genauerer Betrachtung gerade mal dafür, dass eine neue Generation von Bands am Start ist und eine neue Generation von Zuhörern findet. So kannte man den New-Metal-Sound schon Ende der Achtziger, als Bands wie Faith No More oder die Red Hot Chili Peppers knallige Gitarren mit Sprechgesang kombinierten und den Funk knacken ließen. Während die Red Hot Chili Peppers aber zu Rockdinosauriern wurden und Faith No More sich auflösten, entwickelten jüngere Bands diesen Sound weiter, verpackten ihn schön, ließen ihn hier eine Ecke brutaler werden, versahen ihn dort mit mehr Hitpotenzial, und fertig war der neue Metall. Nicht viel anders ist das bei den Neo-Grungern, deren Sound schon von Bands wie Pearl Jam oder Alice In Chains bis zur Neige ausdefiniert wurde: viel Pathos, viel Schweinegitarren, viel Leiden an der Welt.

Nun stören solche Exkurse in die Vergangenheit weder Produzenten noch Konsumenten von New Rock. Viele der Bands sagen offen, wer ihre Idole sind; haben tatsächlich als Coverbands angefangen – Mark Wahlberg in dem Film „Rockstar“ lässt grüßen; oder finden, wie Creed, ganz in Ordnung, dass ihr Sound und ihre Show die Kids an Stadionrock und Acts wie Ted Nugent erinnern. Ja, kleiner geht’s nicht. „Wir wollen“, hat Creeds Scott Stapp dem Rolling Stone gesagt, „etwas Großes und Massives.“

Rock eben. Rock auf sich selbst angewandt. Nicht spielerisch und zitatistisch, sondern eins zu eins. Schon immer war Rock einer der einfachsten und unironischsten Übungen der Popmoderne. Für die Erneuerung sorgt dann schon die Zeit. Nur wenig schert die New-Rock-Musiker deshalb, was ihre Interpreten, die Musikjournalisten, davon halten. Zu deren geläufigsten rhetorischen Kniffen gehört die These von den vielen Toden, die Rock dauernd stirbt. Von dessen Stillstand, Kraftlosigkeit und Selbstüberlebtheit, ob in den Siebzigern, nach dem Selbstmord von Nirvanas Kurt Cobain oder eben jetzt. Man kann sich gut vorstellen, wie sie in ihren Redaktionen sitzen und sich die Haare raufen. Wie sie gegen den vermeintlich uninspirierten und reaktionären neuen Rock die bessere Musik in Stellung zu bringen versuchen. Dann aber auflagenhalber doch Limp Bizkit oder Creed aufs Cover heben.

In diesem Zusammenhang auch gut zu verfolgen, wie der deutsche Ableger des Rolling Stone in seiner neuen Ausgabe die Creed-Coverstory des US-Mutterschiffs zwar im Blatt hat. Dann aber lieber den Singer/Songwriter Ryan Adams auf den Titel nimmt und dessen Erfolgsgeschichte mit einem Spezial zu Americana und Alternative-Country flankiert: Wahrheit, Schönheit und echte Werte gegen Designergrunge, Schmutz und Dumpfbackentum sozusagen. Oder wie der Rockkritiker Karl Bruckmayer in der SZ das schöne, aber auch nicht so überragende Album der Folk-Band Lambchop gleich zu einem der zehn besten Alben aller Zeiten macht! Ganz unironisch! Ein Fan, aber ein sehr verfeinerter.

Ehre, wem Ehre gebührt. Doch an den Bedürfnissen 8- bis 25-jähriger Menschen musizieren Ryan Adams oder Kurt Wagner locker vorbei: Geht denen es doch um den schnellen Kick, den tollen Lärm, die einfache Melodie, den gängigen Refrain. Der neue Rock erfüllt da, gerade vor dem Hintergrund naserümpfender Altvorderer, einen guten alten Zweck. Sorgt für Abgrenzungen den Eltern gegenüber, den Besserhörern, und schockt auch die Mitschüler, die lieber Backstreet Boys hören. Für Freiheitssehnsüchte Pubertierender, ein Lebensgefühl, dass sich jenseits von Suburbs und Schule verortet, reicht es lang. Später kann man es immer noch besser wissen. Später kann man noch immer über den Anachronismus von Rock lästern, der schon lange zu keinem wirklichen Protest mehr taugt.

Dass die Helden nicht ausgehen, dafür sorgen die Plattenfirmen: Rock gilt als Wachstumsbranche, gerade in Zeiten, da ein Michael Jackson ausgedient hat oder eine Mariah Carey wegen Erfolgslosigkeit aus ihrem Vertrag entlassen wird. Man kommt kaum noch nach mit den vielen neuen Signings, und man braucht kein Prophet zu sein, um zu sehen, dass die Plattenfirmen wieder den alten Fehler machen werden: den Trend so schnell melken, bis kein Tropfen mehr kommt und alle die Schnauze voll haben. Dann treten wieder die Totengräber auf den Plan.

Doch Designergrunge und Retortenrock hin, Authentizität und langsamer Aufbau her: Auch die Bands lassen sich nicht lumpen und tun alles für den Schulterschluss mit ihren Fans. Für die ganz Jungen gibt es „We are the youth of the nation“ (P.O.D), „Stay together for the kids“ (Blink 182) oder „Let’s get this party started“ (Korn). Für die Modernisierungsverlierer „It’s a fucked up world, a fucked up life, fucked up dreams, it’s all fucked up“ (Limp Bizkit) oder „they all lost their dad, or their wife just died, they never got to go outside, shut up, nobody gives a fuck“ (Slipknot). Für die Verzweifelten „Broken home“ (Papa Roach) oder „One step closer“ (Linkin Park). Und für die total Verzweifelten „It’s been a while since I could hold my head up high“ von Staind, den ehrlichsten Depressiven im ganzen Land. Bei dessen Mastermind Aaron Lewis scheint Rock die beste Therapie zu sein. Psycho-, Gesprächs- oder Verhaltenstherapie? Hat alles nichts gebracht! Jedes der drei Staind-Alben kündet von den Lewis’schen Fortschritten. „Tormented“ hieß das erste, „Dysfunction“ das zweite, und das dritte – geschafft!: „Break The Cycle“. Allen Ernstes behauptet Lewis in Interviews, alle Eltern der Welt hätten vergessen, was es bedeute, Eltern zu sein.

Was wiederum seitens der neuen Rocker gern vergessen oder verdrängt wird: die Tatsache, dass sie eine reine Männergesellschaft sind. Waren es zu Zeiten Nirvanas Frauenbands wie Hole, Babes In Toyland oder L7, die im Konzert der Großen mitspielten, traten später die Riot Girls auf den Plan, ja, sorgte Cobain selbst gern für Gendercrossing, wenn er in Frauenkleidern auftrat, so scheint das alles aus einer fernen Zeit zu stammen: keine Frau weit und breit, ein Rückfall in vormodernste Zeiten. Andererseits bestätigen Konzerteindrücke nicht unbedingt, dass hier Männer ausschließlich Musik für Männer machen: Bei den Berliner Auftritten von Incubus oder Nickelback standen fast genauso viel Frauen wie Männer herum. Das Geschlechterverhältnis war hier ausgeglichener, als es bei manchen kleineren Indierock-Konzerten der Fall ist.

Womit der dritte Strang des neuen Rocks auf den Plan tritt, auch „neuer Rock ’n’ Roll“ genannt. Seine Wurzeln liegen eher im Indiebereich, und sein Sound gilt manchmal als direkte Reaktion auf New Metal und New Grunge und läuft gern unter Schlagwörtern wie „Rock-’n’-Roll-Rettung“ und „Rock-’n’-Roll-Erlösung“. Seine Protagonisten kommen ebenfalls fast nur aus Amerika und werden gerade in Europa überschwänglichst gefeiert. Die Rede ist von Bands wie den White Stripes und Moldy Peaches, von … And You Know Us By The Trail Of Dead oder The International Noise Conspiracy, von Black Rebel Motorcycle Club und natürlich von den Strokes.

Für sie hört die Rock-’n’-Roll-Geschichte nicht 1988 auf. Im Gegenteil, sie alle scheinen sich vorher viel besser auszukennen und wohlzufühlen. So haben Black Rebel Motorcycle Club ihren Namen in einem Film der Fünzigerjahre mit Marlon Brando gefunden, in „The Wild One“. Ihre Musik kennt man aus den Achtzigern von Bands wie The Jesus & Mary Chain und Ride, ihre grundsätzlich schlauer Songtitel „Whatever Happend To My Rock ’n’ Roll (punk song)“ ist einer der meistzitiersten zurzeit. Die White Stripes wiederum wissen, was ein richtiger Blues ist und wie man auch aus einer Garage als Studio den besten Sound herausholt. Ja, und die Strokes sehen aus, als seien sie geradewegs einem Poster der New Yorker Village Voice aus den Siebzigerjahren entsprungen, und machen dementsprechende Musik: Television, Velvet Underground, Stooges, 2001 wiedergesehen.

Alle diese Bands kennen Wege, die länger sind als von ihrer Haustür bis zum nächsten Diner oder HMV, und alle gehen locker mit der erdrückenden Last der Rock-’n’-Roll -Geschichte der letzten fünfzig Jahre um. Ihren Songs hört man diese Last nicht an. Die sind so frisch und kanckig, als seien sie erst heute erfunden worden. Unbekümmertheit regiert. Alle diese Bands sind, nolens oder volens, Analytiker und Therapeuten ihres Genres zugleich, und alle glauben, dass es auch in Zukunft Unterschiede gibt zwischen cool, uncool und wie man sich fühlt. Gründe genug übrigens, dass sie in den meisten Fällen gerade im stylebewussten England entdeckt und als Erlöser gefeiert wurden. Mit der Stumpfheit und Uncoolness des klassischen Ami-Rocks konnten die Briten sich noch nie anfreunden.

Dass aber auch diese Bewegung ein fast reines Männerding ist, you wouldn’t understand – nun gut, was soll man machen? Dass die einzige dieser Bands, die glaubt, via Rock auch politische Botschaften transportieren zu können, die glaubt, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein für Pop und Politik, like ABC und Heaven 17 never happened, auch 2002 noch zusammengehen, nämlich The International Noise Conspiracy, nun ausgerechnet aus Schweden kommt – na bitte, warum auch nicht? Der sichere und gute Geschmack muss erst mal reichen. Besser, als gleich die ganze Lebensunbill in die Musik zu packen, ist es allemal.