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Das verschwindende Dorf

Die Menschen hoffen, dass der See Arbeit bringt. Den Umweltschützer nennen sie „Verräter des Alentejo“.

aus Aldeia da Luz und Nova Luz REINER WANDLER

Marco Ignacio Frie sitzt auf dem Dorfplatz und wartet auf den Untergang seiner kleinen Welt. Aldeia da Luz, der südportugiesische Geburtsort des 77-Jährigen, soll im Wasser verschwinden. 25 Kilometer abwärts am Fluss, dem Guadiana, wurde Anfang Februar nach sechs Jahren Bauzeit die Staumauer von Alqueva geschlossen. Wo Marco Ignacio Frie heute noch an den Abenden mit seinen Freunden plaudert, wird sich in einem Jahr der größte künstliche See Europas breit machen.

Zurzeit findet Haus für Haus eine Inventur statt. Dann wird die Edia, die staatliche Betreiberfirma des Stausees, die Umzugstrupps schicken. Sie werden die vierhundert Einwohner mit Hab und Gut in das Ersatzdorf bringen, das das Unternehmen für 40 Millionen Euro gebaut hat. Es heißt Nova Luz – „Neues Licht“. Hoffnung soll der Name wohl symbolisieren und in der Tradition von Aldeia da Luz, dem „Dorf des Lichts“, stehen.

Marco Ignacio Frie schüttelt den Kopf. „Ich wurde hier geboren, meine Eltern, meine Großeltern, einfach alle.“ Noch kann er seinen Enkeln, die ihn jedes Wochenende besuchen, zeigen, wo er einst zu Schule ging, wo er seine erste Kommunion empfing, wo ihn zum ersten Mal die Großmutter ansprach und wo sie die Hochzeit feierten. Noch kann er die Kleinen zum Gebäude führen, an dem die rote Fahne aufgezogen wurde, als junge Offiziere am 25. April 1974 der Diktatur ein Ende setzten und aus Frie, der für einen Großgrundbesitzer den Traktor fuhr, plötzlich der „Genosse Traktorist“ in einer Kooperative wurde.

Andere Plätze voll Erinnerungen sind bereits verschwunden. Die Mühlen unten am Fluss, in denen früher Weizen zu Mehl verarbeitet wurde, mussten einer Kiesgrube weichen, mit dem Kies soll eine Straße gebaut werden, da die alte im See versinken wird. Die römische Burgruine, in der sich Mario Ignacio Frie in seiner Kindheit gerne mit Freunden herumtrieb, wurde unter Sandsäcken begraben, damit das Wasser sie nicht zu stark beschädigt. Die jahrhundertealten Olivenhaine, in denen er früher spielte und arbeitete, wurden abgeholzt, damit die verfaulenden Bäume das Wasser nicht belasten. Einige brachten es nicht fertig, zur Axt zu greifen. Sie werden die knorrigen Bäume ausgraben und hoffen, dass sie oben in Nova Luz wieder Wurzeln schlagen.

Eigentlich wussten die Bewohner von Aldeia Luz immer, dass es einmal so weit kommen würde. Bereits in den 50er-Jahren, zu Zeiten von Diktator Salazar, existierten Pläne für einen Staudamm, aber die Umsetzung wurde schon aus Geldknappheit immer verschoben. Erst 1995 war mit Hilfe der Europäischen Union genug Geld da. Kritik, nein Kritik habe er keine, erklärt Frie. Schließlich werde das Wasser die arme Alentejoregion wirtschaftlich voranbringen. Wer könnte da dagegen sein? Dann ist der Alte doch traurig. Er sagt: „Ich wäre gerne auch noch den Rest meines Lebens hier geblieben.“

Marco Igancio Frie schaut zwei Reisebussen voller Schulkinder hinterher, die Richtung Ortsausgang wegfahren. Seit Monaten reisen Schüler und Touristen an, um den Ort zu besichtigen. Eiligst am Ortseingang aufgehängte Schilder leiten den Verkehr direkt zu den Hauptsehenswürdigkeiten um. Die Auswärtigen schieben sich vor allem an den Wochenenden in langen Staus zur Kirche aus dem 15. Jahrhundert, der Stierkampfarena, den römischen Ruinen, der Schule und natürlich zum Guadiana. Fotoapparat und Videokamera immer griffbereit. Die Fahrt durch den Ortskern ist nur noch Einheimischen gestattet. Auf dem Dorfplatz wollen sie in Ruhe Abschied nehmen.

„Es wird zwei Umzüge geben“, erklärt Susanna Monteiro. „Zuerst werden wir die Gräber ausheben und die sterblichen Reste auf den Friedhof in Nova Luz bringen, dann ziehen die Bewohner um.“ Die Frau Anfang 30 ist Psychologin der Betreiberfirma Edia. Sie trägt einen Hippiemantel mit Pelzkragen, schwarze Stiefel und groben Siblerschmuck. Eigens für den Job bei Edia ist sie in das benachbarte Provinzstädtchen Mourao gezogen. Ihre Aufgabe: „Die Angst vor dem Neuen nehmen. Wir organisieren Besuche in den neuen Häusern. Die Menschen müssen eine gefühlsmäßige Bindung zu Nova Luz aufbauen.“

In Kleingruppen nimmt Susanna Monteiro die Einwohner von Aldeia da Luz mit in ihr neues Zuhause und macht mit ihnen Pläne: Hier das Bett, dort der Wohnzimmerschrank. Auch Marco Ignacio Frie war mit seiner Frau in der neuen Wohnung. Sie ist nicht größer als die alte, aber moderner. Die Nachbarn bleiben die gleichen wie in Aldeia da Luz. Nach dem Umzug werden alle zum letzten Mal hierher kommen. „Um sich gemeinsam von Aldeia da Luz zu verabschieden“, erläutert die Psychologin. Dann machen die Bagger das Dorf dem Erdboden gleich – auch das ist Teil von Monteiros Konzept: „Das ist besser, als bei jedem Niedrigwasser die alten Häuser wiedersehen zu müssen“, sagt sie.

„Sich an das Neue zu gewöhnen wird sicher nicht leicht. Nova Luz gleicht eher einem Stadtteil als einem Dorf“, urteilt Gina Guerra. „Hier ist alles gewachsen.“ Windschiefe Mauern, enge, verwinkelte Gassen, vom Wetter gezeichneter Ziegel und Naturstein. Hier ein Anbau, dort ein zusätzliches Fenster – es ist das Unperfekte, woran die Bewohner hängen.

In Nova Luz sieht es anders aus: Die Straßen wurden auf dem Reißbrett gezogen, doppelt so breit wie im alten Dorf, damit bequem zwei Autos aneinander vorbeikommen. Jedes Haus hat die gleichen Türen und Fenster und ähnlich pflegeleichte Kachelböden. Kabelfernsehen und Erdgas sorgen für Komfort, den bisher keiner vermisste. Die Stierkampfarena und der Sportplatz sind viel größer als im alten Dorf. Die Kirche wird nach Originalplänen aus dem 15. Jahrhundert mit denselben Materialien nachgebaut. Fresken, Türen, Bänke und Altäre werden versetzt. Noch legen Arbeiter letzte Hand an. Überall riecht es nach Farbe und Zement. Die meisten Häuser sind verschlossen. Die künftigen Bewohner haben bereits die Schlüssel.

Eine Psychologin soll eine „gefühlsmäßige Bindung“ zu dem neuen Zuhause aufbauen

Gina Guerra sagt, es gelte jetzt, nach vorne zu schauen. „Nova Luz ist neue Hoffnung“ – sie wiederholt den Satz, der auf den Werbeplakaten der Edia prangt, und fügt hinzu: „Der See bringt Arbeit.“ Die Bewässerungslandwirtschaft werde einen nie da gewesenen Boom erleben. Außerdem werde das Wasser Touristen anziehen.

Es gibt nur wenige Stimmen gegen den Staudamm. „Das Alentejo wurde von jeher vernachlässigt. Da ist es völlig normal, dass die Menschen hoffen, das Mammutprojekt könne ihr Leben verändern“, sagt José Paulo Martins, Vorsitzender der portugiesischen Umweltgruppe Quercus. Der Staudamm und die vorgesehene Bewässerungslandwirtschaft sei kein nachhaltiger Plan. „Der Trend in der EU geht weg von der intensiven Landwirtschaft.“ Zusammen mit der bevorstehenden Streichung der Direkthilfen für die Region und der Globalisierung sei der Plan von 200.000 Hektar bewässertem Land zu hoch gegriffen. Zudem werde das Wasser aus Alqueva doppelt so teuer sein wie in anderen bewässerten Regionen des Landes.

An den Tourismus am See glaubt Martins ebenfalls nicht. „Portugal hat 800 Kilometer Küste. An keinem anderen Stausee gibt es nennenswerte touristsche Aktiviitäten. Warum soll das ausgerechnet hier klappen?“, fragt der Umweltschützer. Die Menschen in der Region überzeugen die Gegenargumente nicht. Sie beschimpfen Martins als „Verräter des Alentejo“.

Auch Gina Guerra möchte von der Kritik am Stausee nichts hören. Sie widmet sich der kollektiven Erinnerung, dem, was vom alten ins neue Dorf hinübergerettet werden kann, dem Gemeindemuseum. Zusammen mit ihrer Kollegin hat sie Geschirr, Möbel, Kleider, landwirtschaftliches Gerät sowie einige Fotos in einem winzigen Haus im Ortskern zusammengetragen.

Auch Gina Guerra wird in Nova Luz eine neue Wirkungsstätte bekommen. Die Betreiberfirma Edia hat eigens einen Historiker eingestellt, der ihr seit Monaten hilft, Dorfgeschichte und -geschichtchen sowie Ausstellungsstücke für ein neues Gemeindemuseum zu sammeln. Es wird direkt neben dem Friedhof von Nova Luz errichtet.

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