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Bewusst gesuchte Nähe

■ Auf der Berlinale zeigte der Hamburger Andrei Schwartz „Geschichten aus dem Lepratal“. Ein Gespräch

In seinem preisgekrönten Dokumentarfilm Auf der Kippe dokumentierte der Hamburger Filmemacher Andrei Schwartz einen Jahreszyklus von Roma, die auf einer Müllhalde leben. Nun hat er seinen neuen Film fertiggestellt. Geschichten aus dem Lepratal erzählt von der letzten Lepra-Kolonie Europas, die seit über siebzig Jahren im Südosten Rumäniens liegt. Knapp ein Jahr lang, von Silvester 1999 an, hat Schwartz die verbliebenen 28 Patienten in Tichilesti besucht, mit ihnen gelebt und gedreht.

taz hamburg: Wie war dein ers-ter Kontakt mit den Menschen in Tichilesti?

Andrei Schwartz: Im Spätsommer 1998 bin ich zum ersten Mal dorthin gefahren, völlig offen, weil ich keine Ahnung hatte, was mich dort erwarten und wie ich mit dem Äußeren der Leute zurechtkommen würde. Wir haben erst mal drei, vier Tage gebraucht, um uns anzunähern. Ich wollte mich nicht auf sie stürzen, und sie haben mich recht gut ignoriert am Anfang. Irgendwann haben wir uns hingesetzt und Bier miteinander getrunken. Dann habe ich ihnen meinen letzten Film gezeigt, wie eine Visitenkarte, und gesagt: Viel besser als das kann der Film nicht werden.

Was heißt offen in diesem Zusammenhang? Dass du eventuell die Idee eines Films über die Lep-rastation verworfen hättest?

Ja. Ich plane meine Projekte auf Jahre hinaus, und ein Grundstein meiner Arbeit ist die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses. Man muss eine Beziehung eingehen. Wenn ich mit der physischen Erscheinung der Menschen in Tichilesti nicht zurecht gekommen wäre, wäre ich wieder abgefahren. Das kann man vielleicht bei einer Reportage für zwei Tage ignorieren, aber nicht für einen längeren Film. Natürlich hatte ich mich vorher informiert, ob Ansteckungsgefahr besteht.

Ein Ergebnis dieser Nähe liegt darin, dass die Krankheit im Film gerade über den sehr offenen Umgang mit ihr zusehends verschwindet.

Es kommt darauf an, was man will. Wenn man die Attraktion des Lepradorfes will, filmt man die Fingerstümpfe und ein paar invalide alte Leute, die sich durch ihr Leben mühen. Vasile, der „Bürgermeis-ter“, sagte, dass in den vergangenen Jahren mindestens zwanzig TV-Teams dort wie in einem Zoo gedreht haben. Sie haben ihn dann zum Beispiel gebeten, Hühner zu füttern. Ländliches passt eben gut in die Idylle der Gegend, und die verstümmelten Finger zeigen die Lepra eindrucksvoll. Als ich ihn gefragt habe, ob er die Tiere normalerweise auch versorgt, hat er gesagt: Bist du verrückt? Ich hab doch meine Frau, die vollkommen gesund ist. Aber wenn die das filmen wollen und mir Zigaretten dafür geben – warum nicht?

Du hast den „Bürgermeister“ dann in einer sehr intimen Situation, beim Baden, gefilmt.

Ich war sehr überrascht, dass mir eine derartige Nähe gestattet wurde. Sie haben mir gesagt, es wäre was anderes, weil ich vertrauter bin, sie über zwei Jahre besucht habe und mich finanziell daran beteilige, dass es ihnen besser geht. Sie haben sehr genau darauf geachtet, ob ich sie anfasse, ob ich den selbst gebackenen Apfelkuchen esse. Und gleichzeitig war wichtig, dass der Film neue Zahnprothesen für sie ermöglichte.

Im Unterschied zu vielen Dokumentarfilmern gehst du offen damit um, dass du deine Darsteller bezahlst: In Auf der Kippe ist diese Bezahlung sogar im Film zu sehen.

Ich empfinde diese Menschen auch als Darsteller. Sie für ihre Leistung nicht zu bezahlen wäre reine Ausbeutung. Sie spielen sich vor meiner Kamera selbst, und sie spielen sich nicht nur im Jetzt. Mit ihren Geschichten und Gesten spielen sie sich auch, wie sie vor zwanzig, dreißig Jahren waren.

Und deine eigene Bezahlung? Wie kannst du bei dieser Arbeitsweise als Filmemacher leben?

Das ist sehr schwierig und hat mit einem strukturellen Problem zu tun: Diese Filme nehmen soviel Zeit in Anspruch wie ein durchschnittlicher Spielfilm, werden aber von den Fernsehanstalten und den Fördergremien so finanziert, als könnte man das in zwei Monaten durchziehen. Die Filme, die man in zwei Monaten machen kann, sehen dann allerdings auch so aus. Man hat ein Konzept, geht hin, sucht nach den Bildern zur Illustration, und fertig. Es braucht aber Zeit, um die jeweilige Situation vor Ort zu begreifen. Zuerst sieht man ein paar Äußerlichkeiten; aber weiß man dann schon, woraus das Leben dort besteht?

Der Eindruck jedenfalls, den „Geschichten aus dem Lepratal“ vermittelt, ist alles andere als düs-ter.

Was mich am meisten eingenommen hat, war der Humor in Tichilesti. Ein schwarzer Pechsträhnenhumor, den sie sich erhalten haben. Diese Leute sprühten vor Witz und erzählten gerne ihre Geschichten. Ich erfuhr viel, und in der Mischung aus traurigen und lustigen Lebensgeschichten habe ich mich sehr zu Hause gefühlt.

Interview: Jan Distelmeyer

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